Lage im Überblick
Israel kündigt nach iranischem Raketenangriff Vergeltung an
2. Oktober 2024, 1:18 Uhr
Nach dem iranischen Raketenangriff auf sein Land hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu Vergeltung angekündigt. "Der Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht - und er wird dafür bezahlen", sagte Netanjahu nach Angaben seines Büros. Wann ein Vergeltungsschlag auf den Iran erfolgen könnte, blieb zunächst offen. Bereits in der Nacht zum Mittwoch griff Israel im Kampf gegen die proiranische Hisbollah-Miliz aber erneut die libanesische Hauptstadt Beirut an. Der Iran selbst warnte Israel indes vor einem Vergeltungsschlag und drohte seinerseits eine heftige weitere Reaktion an. Angesichts der eskalierenden Lage in Nahost soll der UN-Sicherheitsrat am Mittwoch (16 Uhr MESZ) zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.
Der Iran hatte Israel am Dienstag mit rund 180 Raketen angegriffen. Die meisten wurden laut israelischem Militär von Israel und einer von den USA geführten Verteidigungskoalition abgefangen. Ein Todesopfer gab es im Westjordanland, zwei Verletzte in Tel Aviv. Im Zentrum und im Süden Israels wurden Einschläge registriert. Medienberichten zufolge hatte der Iran zwei israelische Luftwaffenstützpunkte und das Hauptquartier des israelischen Geheimdienstes Mossad ins Visier genommen. Millionen Israelis suchten Zuflucht in Schutzräumen. Es war nach April der zweite Angriff des Irans auf Israel in diesem Jahr.
Wie reagiert Israel?
Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sagte, der Iran habe "eine schwerwiegende Tat" begangen, die den Nahen Osten in Richtung Eskalation treibe. "Wir werden zu dem Zeitpunkt und an dem Ort handeln, den wir bestimmen, und zwar in Übereinstimmung mit den Anweisungen der politischen Ebene. Diese Ereignisse werden Konsequenzen nach sich ziehen." Wie genau ein Vergeltungsschlag aussehen könnte, sagte er nicht.
Die "New York Times" berichtete unter Berufung auf US-Beamte, in einem möglichen Szenario könnte Israel die iranischen Nuklearanlagen angreifen. Insbesondere die Anreicherungsanlagen in Natanz, dem Herzstück des iranischen Programms, könnten im Visier stehen.
Hagari kündigte weitere Angriffe an. "Die Luftwaffe ist nach wie vor voll einsatzfähig und wird heute Abend im Nahen Osten weiterhin mit voller Kraft zuschlagen, so wie sie es im vergangenen Jahr getan hat", sagte er in der Nacht zum Mittwoch. Die iranischen Raketenangriffe hätten keine Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Luftwaffe. Netanjahu bezeichnete Irans Angriff als gescheitert.
Die Armee teilte am frühen Mittwochmorgen mit, es würden "terroristische Ziele in Beirut" attackiert. Details nannte das Militär zunächst nicht. Es seien mindestens fünf israelische Angriffe auf die südlichen Vororte von Beirut verübt worden, wie Medien unter Berufung auf eine libanesische Sicherheitsquelle berichteten.
Und was macht der Iran?
Der Iran drohte Israel, falls es einen Vergeltungsschlag starte. "In diesem Fall wird unsere Antwort stärker und kräftiger ausfallen", schrieb der iranische Außenminister Abbas Araghchi auf der Plattform X. "Unsere Aktion ist abgeschlossen, es sei denn, das israelische Regime beschließt, zu weiteren Vergeltungsmaßnahmen aufzurufen."
Die iranischen Revolutionsgarden erklärten, die Attacke sei eine Vergeltung für die Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija, Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah sowie eines iranischen Generals, hieß es im Staatsfernsehen. Im Iran feierten Tausende Menschen den Raketenangriff auf Israel.
Wie schätzen Experten die Lage ein?
Grant Rumley, ein ehemaliger Pentagon-Beamter, sagte der "New York Times", im Gegensatz zu dem Angriff im April, bei dem Israel tagelang vorgewarnt war und seine Verteidigung mit Verbündeten in der Region koordinieren konnte, sei der Angriff am Dienstag nur wenige Stunden im Voraus angekündigt worden. "Daher ist es schwer, diesen neuen Angriff als rein symbolisch zu betrachten", sagte Rumley. "Es sieht auf jeden Fall nach einer Eskalation durch den Iran aus."
Das Heft des Handelns liegt nach Einschätzung von Experten nun bei Israel. Mohanad Hage Ali, stellvertretender Direktor des Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center, einem Forschungsinstitut in Beirut, sagte dem "Wall Street Journal", Irans Angriff gebe Israel Anlass, direkt auf iranisches Territorium zurückzuschlagen, was einen regionalen Krieg auslösen könnte.
Ähnlich schätzt Bilal Saab, ein ehemaliger Pentagon-Beamter und jetzt bei der Denkfabrik Trends Research and Advisory, die Lage ein. Er sagte: "Die Möglichkeit einer weiteren Eskalation dieses regionalen Konflikts hat mehr damit zu tun, was Israel will und weniger damit, was der Iran tut." Er fügte hinzu: "Israel sieht hier eine einmalige Gelegenheit, all seinen Gegnern zu schaden und ihnen möglicherweise einen tödlichen Schlag zu versetzen."
Wie reagiert die internationale Gemeinschaft?
US-Präsident Joe Biden wirbt dafür, die Reaktion auf den iranischen Raketenangriff gut abzuwägen. Auf die Frage, wie Israel auf den Iran reagieren sollte, antwortete Biden im Weißen Haus in Washington: "Das ist momentan eine laufende Diskussion. Wir müssen uns alle Daten genau ansehen. Wir sind in ständigem Kontakt mit der israelischen Regierung und unseren Partnern, und das bleibt abzuwarten." Nach dem derzeitigen Stand scheine der Angriff abgewehrt und unwirksam gewesen zu sein. Die USA stünden voll und ganz hinter Israel. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bezeichnete den iranischen Raketenangriff als "verabscheuungswürdigen Akt der Aggression". "Wir fordern den Iran auf, alle weiteren Angriffe einzustellen, auch von seinen Stellvertreter-Terroristengruppen", sagte er.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verurteilte den Angriff auf der Plattform X "auf das Allerschärfste". Sie schrieb weiter: "Wir haben Iran vor dieser gefährlichen Eskalation eindringlich gewarnt." Die EU verurteilte den Angriff ebenfalls. "Der gefährliche Kreislauf von Angriffen und Vergeltungsmaßnahmen droht, außer Kontrolle zu geraten", so der Außenbeauftragte Josep Borrell auf X.
Der Élysée-Palast teilte nach einer Sitzung des Verteidigungs- und Sicherheitsrats mit, die französische Regierung habe ihre militärischen Mittel im Nahen Osten mobilisiert, um die iranische Bedrohung abzuwehren. Laut Großbritanniens Verteidigungsminister John Healey beteiligte sich das britische Militär am Abend an Versuchen, eine weitere Eskalation im Nahen Osten zu verhindern.
Warum eskaliert die Lage immer weiter?
Schon im April hatten Irans Revolutionsgarden (IRGC) zum ersten Mal in der Geschichte der Islamischen Republik einen direkten Angriff auf Israel ausgeführt. Dabei feuerten die IRGC-Luftstreitkräfte mehr als 300 Drohnen, Raketen und Marschflugkörper auf ihren Erzfeind - als Reaktion auf die Tötung von Generälen durch einen mutmaßlichen Angriff Israels in Syrien. Der Angriff wurde erfolgreich abgewehrt.
Israels Militär und Geheimdienste hatten zuletzt Irans Verbündete in der Region erheblich geschwächt. Ende Juli wurde der Auslandschef der islamistischen Hamas in Teheran getötet. Irans Staatsführung schwor daraufhin Rache. Am Freitag wurde mit Hisbollah-Chef Nasrallah ein zentraler Verbündeter Teherans getötet. Zuvor hatten explodierende Pager Hunderte Hisbollah-Funktionäre verletzt und etliche auch getötet. Es war seither unklar, ob und wie Irans militärische Führung darauf reagieren würde.
Am Dienstag kam ein weiterer Schritt des israelischen Militärs hinzu: Erstmals seit fast zwei Jahrzehnten drangen israelische Bodentruppen wieder in den Libanon ein. Rund ein Jahr nach Beginn des Gaza-Kriegs verlagerte sich damit der Schwerpunkt der Kämpfe in Richtung des nördlichen Nachbarlandes.
Seit der Revolution von 1979 gelten die USA und Israel als Erzfeinde der Islamischen Republik. Mit Ausbruch des Gaza-Kriegs vor knapp einem Jahr drohte mehrfach, dass sich der Schattenkonflikt zu einem Flächenbrand entwickelt. Der Iran erkennt das Existenzrecht Israels nicht an und strebt dessen Auslöschung an. Er hat jahrelang paramilitärische Organisationen unterstützt, die sich als Teil seiner Achse des Widerstands gegen Israel stellen. Irans Revolutionsgarden sind die Elitestreitmacht des Landes und gelten als deutlich schlagkräftiger als die reguläre Armee.