Alternative zu geplanter Weltreise
Abiturient verpflichtet sich zwei Jahre der Bundeswehr
19. August 2022, 10:57 Uhr aktualisiert am 19. August 2022, 10:57 Uhr
Nach zwölf Jahren Schule hat Paul Hessler genug vom Lernen. Statt sich um einen Studien- oder Ausbildungsplatz zu bemühen, will er lieber ein paar Monate pausieren, arbeiten und reisen. Dann schließt er sich aber der Bundeswehr an und bleibt fast zwei Jahre. Seine Geschichte.
Das Gewicht ist auf 70 Kilogramm eingestellt, die Beine sind im 90-Grad-Winkel auf den Boden gedrückt und der Rücken ist leicht nach hinten gelehnt. Paul Hessler bereitet sich auf vier Wiederholungen Latziehen vor, Rückentraining des Latissimus-Muskels. Er atmet tief ein, reißt den Bügel herunter und stoppt kurz vor seiner Brust. Dort hält er inne, das Gewicht zerrt an seinen Armen. Er lässt das Gerät aber nur langsam und kontrolliert wieder nach oben, wartet auf das kurze Klacken am Anschlag und fängt von vorne an.
Paul Hessler aus Nürnberg ist 20 Jahre jung, heißt eigentlich anders und wirkt, als hätte er Muskeltraining schon immer betrieben. Die Geräte im Fitnessstudio bedient er mit der Entschlossenheit eines gestandenen Mannes. Dabei hat er erst vor zwei Jahren sein Abitur bestanden. Damals war er zwar auch schon sportlich, aber noch viel schmächtiger. Jetzt wirken seine breiten Schultern wuchtig, sein Gang geradlinig und energisch.
Seit knapp 18 Monaten leistet Paul freiwilligen Wehrdienst bei der Bundeswehr. Als Teil der Division „Gebirgsjäger“, einer Spezialeinheit der Infanterie, ist er in der „Hochstaufenkaserne“ Bad Reichenhall in Oberbayern stationiert.
Bergmarsch und Schießstand statt Weltreise
Das Abitur besteht Paul im Sommer 2020 an einem Gymnasium in Nürnberg. Sein Vorhaben, nach dem Abschluss die Welt zu bereisen, scheitert. Corona kommt dazwischen. Der Abiturient hält allerdings an seinem Plan fest, das Jahr vor dem Studienbeginn überbrücken zu wollen. Ein Freund empfiehlt, bei der Bundeswehr zu arbeiten, „das klang ultrageil“.
Deshalb zögert er nicht lange, die Online-Bewerbung einzureichen und ein erstes Telefongespräch zu führen. Der nächste Schritt ist ein weiteres Gespräch im Bundeswehr-Karrierecenter. Paul kann da sogar seinen Wunsch äußern, als Gebirgsjäger ausgebildet zu werden. Die ärztliche Untersuchung und das Psychologengespräch bereiten ihm keine Schwierigkeiten.
In der Grundausbildung gibt es keine Schonfrist
Jeder Soldat, unabhängig von Truppengattung und Division, muss zu Beginn seiner Laufbahn die Grundausbildung durchstehen. Noch bevor die Neulinge ihre Uniform erhalten, lernen sie, richtig zu stehen, zu grüßen und ihre Stuben ordentlich zu hinterlassen. In den drei Monaten Einführungszeit geht es darum, den Bewerbern Disziplin und Gehorsam beizubringen.
Für die Neuen gibt es keine Schonfrist. Innerhalb der ersten sechs Monate kann nämlich jeder Soldat einwandfrei widerrufen. In diesem Zeitraum sollen Jungsoldaten und Vorgesetzte frühzeitig feststellen, wer dem Tempo und den Erwartungen der Bundeswehr standhält. „In der Grundausbildung machst du, was dir gesagt wird“, sagt Paul. Er kommt mit der strengen Umgangsweise gut zurecht und empfindet den fordernden Einstieg sogar als notwendig, um erste Hürden zu bestehen und sich anschließend integriert zu fühlen.
Nach der Grundausbildung hat Paul sofort das Gefühl, „angekommen zu sein“. Es herrschen hierarchische Strukturen, allerdings ist der Umgang untereinander locker. Die meisten Kameraden sind schon seit Jahren Teil der Stammeinheit, doch die Neuankömmlinge werden nicht wie Anfänger behandelt. In der Kaserne in Bad Reichenhall nimmt Paul viele der Soldaten als Freunde wahr.
Ein gutes Beispiel für den lockereren Umgang sei die Soldatensprache. Die Kameraden sind keine „Kumpels“, sondern „dienstlich gelieferte Freunde“. Hauptgefreite, der Dienstgrad zu dem Paul nach zwölf Monaten ernannt wird, werden wegen der drei Streifen auf ihrer Uniform „Adidas-Gefreite“ genannt. Die Wintermütze der Gebirgsjäger ist auch als „Bärenfotze“ bekannt. Paul lacht. Viele Begriffe der Soldatensprache, die sogar in einem Lexikon erklärt werden, amüsieren ihn.
Auch die fachliche Ausbildung gefällt Paul. Der Fokus liegt nicht mehr auf der soldatischen Erziehung, sondern der Dienstpostenausbildung. Für die Gebirgsjäger heißt das: Schießblöcke, Bergmärsche und Biwak-Nachtlager.
Ein einziger Fehler am Schießstand kann das Ende bedeuten
In den Übungen wird, wie bei einer Ausbildung, theoretisches und praktisches Wissen weitergegeben. Nur mit dem Unterschied, dass ein einziger Fehler am Schießstand das Ende bedeuten kann.
Das oberste Gebot für das Schießen mit scharfen Waffen ist das sogenannte „Mündungsbewusstsein“. Es bedeutet, sich der hohen Verletzungsgefahr bewusst zu sein und deshalb nie in Richtung seiner Kameraden zu zielen. Eine Missachtung führt sofort zu einem Disziplinarverfahren. Aber auch hier bleibt Paul locker und merkt leicht ironisch an, es handle sich eben um einen ganz normalen Job, mit einem „etwas anderen Arbeitgeber“.
Dieser Arbeitgeber bietet aber auch außergewöhnliche Vorzüge. Junge Menschen wie Paul können ohne Hochschulabschluss deutlich mehr Geld als bei üblichen Minijobs verdienen. Deshalb zögert der Abiturient nicht lange, seinen Dienst zu verlängern. Damals, im Frühjahr 2021, ist die Aussicht auf ein „normales“ Studentenleben wegen Corona immer noch nicht möglich. Außerdem ergibt sich für Paul später die Möglichkeit, in Norwegen weiter ausgebildet zu werden.
Minus 30 Grad in Norwegen: für Paul „echtes Glück“
Für das „Highlight meiner Zeit beim Bund“ streckt er den Dienst erneut, auf 19 Monate. Die Übungscamps wurden mit der norwegischen Armee vorbereitet. Vor Ort treffen Soldaten aus ganz Europa aufeinander. 300 Kilometer nördlich des Polarkreises ist das Wetter extrem. Der Schnee ist im Gebirge über zwei Meter tief, die Temperatur liegt zum Teil bei minus 30 Grad Celsius. Für Paul sind es aber gerade die brutalen Herausforderungen, die den Reiz ausmachen. Wo kann man besser trainieren, sich selbst aus einem zugefrorenen See zu retten oder in der vereisten Wildnis mit primitivsten Mitteln zu überleben? Was für normale Menschen nach einem Albtraum klingt, empfindet der freiwillige Soldat als „echtes Glück“.
Vom frisch gebackenen Abiturient zum erwachsenen Mann
Paul Hessler wäre nach seinem Abitur gerne um die Welt gereist. Inzwischen ist er sich aber sicher, dass es die bessere Entscheidung war, zur Bundeswehr zu gehen. Nicht nur sein Körperbau oder seine Art zu gehen, veränderten sich. Paul wurde entschlossener, erwachsener. Der Wehrdienst „hat mich generell weitergebracht“. Als Jugendlicher kam er regelmäßig zu spät zum Unterricht und war häufig durch den Wind. Jetzt misst er sich an den Erwartungen eines Vorzeige-Soldaten und orientiert sich stets an „fünf Minuten vor der Zeit“.
Nun sucht Paul einen Studienplatz. Darmstadt und Erlangen interessieren ihn, dort gibt es technische Studiengänge. Doch er wird auch zur Bundeswehr zurückkehren. Als Reservist kann Paul seine Semesterferien nutzen, um Geld zu verdienen: „Da gehe ich halt zwei Monate auf eine coole Übung.“
Hinweis: Tim Hoffmann studiert in Passau Journalismus und strategische Kommunikation. Sein Beitrag ist in einer Lehrredaktion entstanden, die in dem Studiengang integriert ist. Die Lehrredaktion wird von Redakteuren unserer Mediengruppe betreut.