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Hinter dem Ende vom Ende: Ein persönlicher Abschied von Tim Lobinger
17. Februar 2023, 17:54 Uhr aktualisiert am 17. Februar 2023, 17:54 Uhr
Es gibt Nachrichten, von denen man hofft, dass sie nie kommen, obwohl man seit Langem - viel zu Langem - weiß, dass es unausweichlich ist, dass sie ihre verhasste, nie erwünschte Aufwartung machen werden. Am Abend dieses 16. Februar war es soweit, das Handy vibrierte und überbrachte in all ihrer anonymen, emotionslosen Finalität die Kunde: "Tim ist tot."
Tim Lobinger, der Mann, der mich fast mein ganzes Journalisten-Leben begleitet hat, mit dem man gelitten und gestritten, gelacht und - ja - geweint hat, wurde vom Krebs, der seit der Diagnose, die ihm - aber nicht nur ihm - den Boden unter den Füßen mit markerschütternder Urgewalt weggerissen hat, dahingerafft. Lobinger ist in München im Kreise seiner Familie friedlich eingeschlafen. Er wurde nur 50 Jahre alt. "Er hat den Kampf nicht verloren, sondern auf seine Weise gewonnen", sagte seine Familie der "Bild". Einer seiner letzten Wünsche war, es dass er lange genug leben würde, um die Geburt seines ersten Enkelkindes Fia zu erleben. Kurz vor Weihnachten hatte dieser Ausbund an Willenskraft und Individualität dieses Ziel erreicht.
Seit der Diagnose am 3. März 2017 dachte er genau so: In Etappenzielen. Von Familienevent zu Familienevent. Den nächsten Geburtstag erleben. Weihnachten. Silvester. Die Einschulung seines jüngsten Sohnes Okkert, die Hochzeit seiner ältesten Tochter Fee, die er - schwer gezeichnet von der Krankheit - im Sommer zum Traualtar geführt hatte. Die einzig positive Diagnose, die er in der Leidenszeit je erhalten hatte, war die, dass seine Krankheit nicht vererbbar war, dass er seinen Kindern nicht das Leiden, die Angst, den Tod mitgegeben haben konnte.
"Das war der Moment, wo ich mit am meisten geweint habe, und zwar vor Erleichterung", sagte er, der an einer sehr seltenen, sehr aggressiven, sehr tödlichen Form der Leukämie erkrankt war, der AZ im Jahre 2018. Noch drei bis fünf Jahre hatten ihm die Ärzte anfangs prognostiziert. Alles, wirklich alles, sprach gegen ihn - außer seiner Sportlerkonstitution.
Und seinem Kampfgeist. Die Ikone des Stabhochsprungs, Hallenweltmeister 2003, Halleneuropameister 1998, der erste Deutsche, der die sechs Meter überquert hatte, war mit seinem Muskelkörper ein Sinnbild für Kraft, Gesundheit, Virilität. Er war ein Sex-Symbol, ein streitbarer, unangepasster Kerl. Man konnte sicher sein, dass man ihn dort, wo alle den Lemmingen gleich hingewandert waren, nicht treffen würde.
Lobinger war ein notorischer Nonkonformist.
Vor der EM 2003 trafen wir uns das erste Mal bei einem Termin in Erding. Er, der Adonis der Leichtathletik, mit seinem charakteristischen Zopf, und ich, der langhaarige Reporter, verstanden uns sofort. Er redete wie ein Wasserfall, nahm nie ein Feigenblättchen vor den Mund, er schien es zu genießen, sich mit den Großen, den Großkopferten und den Bläh-Egos anzulegen. Verbote waren für ihn kein Stopp-Zeichen, sondern die Aufforderung, dahinter zu schauen, zu erkunden, was sich im vermeintlich verbotenen Land abspielte.
Tim, dessen Namen der Gottesfürchtige bedeutet, der aber selbst in der Krankheit keinen Zugang zu Gott gefunden hat, war kein einfacher Mensch. Er war das Paradebeispiel dafür, dass aus Reibung Energie entsteht. Als er sich mal über einen Artikel und das Wort "Stabhochsprung-Diva" geärgert hatte, stand er plötzlich in der AZ-Redaktion und wollte eine Aussprache. Die fand sogleich statt - in einem kleinen Café. Er sagte, was er zu sagen hatte. Dann saßen wir gemeinsam in der Sonne und genossen den Tag, sprachen über Gott, die Welt - und auch Diven.
Ende 2018 haben wir uns das letzte Mal in natura gesehen - zum AZ-Weihnachtsinterview zusammen mit dem wunderbaren Kollegen Florian Kinast. Der erste Anblick ein Schock - abgemagert, schütteres Haar, tief liegende Augen, die von schwarzen Ringen umrandet waren. Doch innendrin war er immer noch dieser Ausbund an Energie, Kraft, Lebensfreude.
Ein Gespräch voller Tiefe über Ängste, Hoffnung, das Leben, das Sterben, den Tod. Stunden mit den Tränen in den Augen. Bei allen. "Der Jahrgang auf unserer Isolierstation war kein guter. Von den acht oder neun, die mit mir dort waren, bin ich der Einzige, der noch da ist", erzählte er: "Für mich war früher der Tod hinter dem Ende vom Ende. Ganz, ganz weit weg. Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, hilft, das Leben bewusster zu leben, wieder mehr zu genießen."
Er genoss es, mit seiner Familie. In den Jahren danach schrieb ich ihm immer mal wieder eine WhatsApp - mal Genesungswünsche, mal andere Grüße. Mal kam was zurück, meist antwortete er nicht. Das war nicht seine Art, er war ein "Hector", wie er es nannte, ein Hektiker, der keine Zeit vergeudete.
Vor drei Tagen wollte ich ihm eine Nachricht schreiben. Ich habe es aufs Wochenende verschoben, weil ich in Ruhe die richtigen Worte finden wollte. Zu spät, für immer zu spät. Ich hoffe, ich habe sie hier gefunden. Und eines ist klar: Worte, die vom Herzen kommen, finden immer den richtigen Ton. Die falschesten Worte, sind oft die, die man nicht findet.