"Ermordung eines Politikers ist eine Zäsur"
NICHT FREIGEBEN Walter Lübcke ermordet: Die rechtsextremistische Szene wird immer gefährlicher
18. Juni 2019, 19:26 Uhr aktualisiert am 25. Juni 2019, 11:59 Uhr
Experten warnen: Seit sich 2011 der NSU selbst enttarnt hat, ist die rechtsextremistische Szene noch gefährlicher geworden. Der tödliche Kopfschuss auf Walter Lübcke zeige einen Strategie-Wechsel.
Wolfhagen - Rund ein Jahr nach der Urteilsverkündung im NSU-Prozess am 11. Juli 2018 haben Prozessbeteiligte und Experten ein vernichtendes Fazit gezogen. Weder die Ermittlungen, noch das Strafverfahren oder die vergleichsweise milden Urteile hätten eine abschreckende Wirkung auf Rechtsextremisten gehabt, sagt die Anwältin der Hinterbliebenen von Mehmet Kubasik († 2006), Antonia von der Behrens, am Dienstag bei einer Veranstaltung des Mediendienstes Integration.
Die Gefahr durch Rechtsextremisten sei heute sogar noch größer als bei der Selbstenttarnung des NSU 2011, so der Direktor des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Matthias Quent. Das gewaltbereite rechte Spektrum sei deutlich fragmentierter und unübersichtlicher geworden. Zu "alten Neonazis" gesellten sich Anhänger der Neuen Rechten. Und mit der Erschießung des Hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor zwei Wochen - "die erste erfolgreiche Ermordung eines regierenden Politikers seit 1945", so Quent - sei eine Zäsur erreicht.
Man beobachte eine Verschiebung der Strategie. Der NSU hatte zwischen 2000 und 2007 neun Einzelhändler mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordet. Später planten rechtsextreme Terrororganisationen wie die 2015 aufgeflogene "Oldschool Society" Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Moscheen.
Experte: "Combat 18" ist eine "tickende Zeitbombe"
Zudem verwischten die Grenzen zwischen Rechtspopulisten und militanten Gruppen, sagt Quent. Rechtsextreme Täter fühlten sich bestärkt durch die Erfolge der AfD - und legitimiert als diejenigen, die nur die Stimmung in der Bevölkerung in Handeln umsetzten. Ali Sonboly etwa, der 2016 in München neun Menschen erschossen hatte, sei "Fan" der AfD gewesen. Eine Studie habe zudem gezeigt, dass Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte dort häufiger vorkämen, wo die AfD auf Facebook sehr aktiv sei. Stephan E., der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, soll an die AfD gespendet haben.
Für "eine tickende Zeitbombe" hält Extremismus-Experte Matthias Quent die internationale Neonazi-Terrororganisation "Combat 18", den bewaffneten Arm des Netzwerks "Blood & Honour", zu dem auch Beate Zschäpe und ihre Mittäter Uwe Böhnhardt sowie Uwe Mundlos (beide † 2011) Kontakt hatten.
"Combat 18" lasse sich mit "Kampfgruppe Adolf Hitler" übersetzen, erklärt Anwältin von der Behrens. Diese Gruppierung veranstalte Waffentrainings in Osteuropa, verherrliche Gewalt sowie den NSU und habe Geld für den verurteilten Terrorhelfer Ralf Wohlleben gesammelt. "Diese Leute empfinden es als Adelung, wenn sie für ein paar Jahre ins Gefängnis gehen", sagt Quent. "Das sind Leute, die in keiner Weise mehr zu erreichen sind." Ziel der Gruppe sei es, eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die sich am Nationalsozialismus orientiere, sagt von der Behrens. "Wenn eine Person aus dieser Gruppe mordet, ist das kein Zufall, sondern konsequent umgesetzte Ideologie."
Stephan E. war den Behörden bekannt
Stephan E. soll ebenfalls mit "Combat 18" in Verbindung gestanden haben. Und es gibt weitere Anknüpfungspunkte zur Terrorzelle um Beate Zschäpe: Im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags war auch der polizeibekannte Rechtsextremist E. Thema. Laut Obmann Hermann Schaus (Linke) tauchte sein Name in den Akten auf - und "NPD-Stephan" wurde als "sehr gefährlich" eingestuft.
Weitere Parallelen: "Der Täter ist die Generation NSU", sagt Anwältin von der Behrens. Er ist 45, Zschäpe ein Jahr jünger. Uwe Mundlos habe in den 1990ern eine Flüchtlingsunterkunft ausspioniert - Stephan E. trat 1993 erstmals polizeilich in Erscheinung, weil er eine Asylbewerberunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth attackiert hatte. Sie haben sich also offenbar zur selben Zeit radikalisiert. Mehrere Täter, die in den 1990er Jahren aktiv waren, träten nun wieder in Erscheinung, sagt Matthias Quent - vergleichbar mit islamistischen "Schläfern". Das Bundeskriminalamt stuft derzeit 34 Personen als rechte Gefährder ein.
Quent und von der Behrens glauben weder, dass der NSU nur aus den in München angeklagten Personen bestand, noch, dass Stephan E. allein für den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten verantwortlich ist. Bei Mundlos und Böhnhardt seien 20 Waffen gefunden worden, sagt die Juristin. "Bei 17 davon ist nicht geklärt, woher sie kamen", was sie als einen von vielen Hinweisen auf Hintermänner deutet. Und Matthias Quent sagt mit Blick auf die gewaltbereite rechtsextremistische Szene in Deutschland: "Ich erwarte, dass im Fall Lübcke nach einem Netzwerk gesucht wird."
Mitat Özdemir, der ehemalige Vorsitzende der "Interessensgemeinschaft Keupstraße" (in der Kölner Keupstraße wurden 2004 bei einem NSU-Anschlag 22 Menschen verletzt), sagt über den Mord von Kassel: "Für mich ist das ein Zeichen: Jetzt geht es richtig los und das macht mir Angst."