Tatsachen statt Fake News
Infektionsschutzgesetz: Um was es dabei wirklich geht
18. November 2020, 7:26 Uhr aktualisiert am 18. November 2020, 11:34 Uhr
Am Mittwoch soll das "Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" im Schnellverfahren durch Bundestag, Bundesrat und Bundespräsidialamt gehen. Von unterschiedlicher Seite kommt Kritik an der Neufassung. Gegner haben für den Mittwoch in Berlin zu Protesten aufgerufen. Die Polizei bereitet sich auf größere Einsätze vor. Gleichzeitig sind soziale Medien wieder einmal voll von Verschwörungstheorien - inklusive Verdrehung von Sachverhalten, schlichter Lüge und ebenso unzutreffenden wie geschmacklosen Vergleichen zum Ermächtigungsgesetzt von 1933. Was wird tatsächlich beschlossen?
Mit dem Gesetz sollen die Alltagsbeschränkungen für die Bürger im Zuge der Bekämpfung der Pandemie auf eine belastbare Rechtsgrundlage gestellt werden. Um 12 Uhr wird der Bundestag in zweiter und dritter Lesung über den Entwurf der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD beraten und anschließend abstimmen. Der Bundesrat wird dann um 15 Uhr in einer Sondersitzung ebenfalls darüber entscheiden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird das Gesetz möglicherweise noch am selben Tag ausfertigen, so dass es in Kraft treten kann.
Was ist das Infektionsschutzgesetz?
Das Infektionsschutzgesetz definiert meldepflichtige Krankheiten, Meldewege und Meldedaten. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde es schon mehrfach reformiert. Gleich zu Beginn im Frühjahr wurde eingeführt, dass der Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite feststellen kann. Der Bundestag tat dies damals umgehend und gab damit dem Bundesgesundheitsministerium Sonderbefugnisse, um Rechtsverordnungen zu erlassen, ohne dass der Bundesrat zustimmen muss. Normalerweise ist bei Verordnungen der Regierung ein Ja der Länderkammer notwendig. Der Zustand der epidemischen Lage gilt bis heute - der Bundestag kann sie aber jederzeit beenden.
Wieso wird das "Dritte Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" (IfSG) eigentlich beschlossen?
Die Pandemie-Maßnahmen der Bundesregierung wurden bisher über Verordnungen des Bundesgesundheitsminsteriums auf Basis der Gesetzfassung vom 27. März 2020 ins Werk gesetzt. Verschiedene Gerichte und Staatsrechtler sahen die Regierung bei diesem Vorgehen in einer rechtlichen Grauzone, weil die demokratische Legitimation durch den Bundestag fehlte. Zudem sind die Maßnahmen auf Basis der alten Gesetzesfassung zeitlich auf den 31. März 2021 begrenzt. Die neue Fassung ermöglicht deren Fortführung. So heißt es im Entwurf: "Die fortschreitende Verbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 und der hierdurch verursachten Krankheit Covid-19 machte deutlich, dass weitere Regelungen und Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und zur Bewältigung der Auswirkungen auf das Gesundheitswesen notwendig sind."
Was ist die Zielsetzung?
Das Gesetz soll größere Rechtssicherheit und mehr bundesweite Einheitlichkeit in der Bekämpfung der Pandemie bringen. Die Regierung muss Verordnungen künftig öffentlich begründen. In der Vergangenheit wurde oft kritisiert, dass auf dem Verordnungsweg auf unabsehbare Zeit in die Grundrechte der Bürger eingegriffen werde. Nun wird vorgeschrieben, dass solche Rechtsverordnungen zeitlich zu befristen sind. Ihre Geltungsdauer soll grundsätzlich vier Wochen betragen. Sie können aber verlängert werden. Bei religiösen Zusammenkünften und Demonstrationen - die besonderen Grundrechtsschutz genießen - sollen Maßnahmen nur zulässig sein, "soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen" die Corona-Eindämmung "erheblich gefährdet wäre".
Welche neuen Bestimmungen enthält das Gesetz?
Mit der Gesetzesnovelle wird nun unter anderem ein neuer Paragraf 28a ins Gesetz eingefügt. Er listet im Detail auf, welche Schutzmaßnahmen von Landesregierungen und zuständigen Behörden zum Eindämmen der Pandemie verordnet werden können. Dazu zählen: Abstandsgebote, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum, das Beschränken oder Untersagen von Übernachtungsangeboten, Reisen, Kultur-, Sport- und Freizeitveranstaltungen, das Schließen von Geschäften oder das Anordnen einer Maskenpflicht im öffentlichen Raum. Im wesentlichen handelt es sich um die Maßnahmen, die bereits beim Lockdown im Frühjahr ergriffen wurden und teilweise auch jetzt beim Teil-Lockdown im November gelten.
Außerdem ist nun für Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) nicht mehr die mögliche Schwere einer übertragbaren Krankheit maßgeblich, sondern ein mögliches Bedrohungspotenzial, das diese darstellt. So wird in Paragraph 4 des IfSG, der die Voraussetzung für die Anwendung des Gesetzes enthält, bei bestimmten Krankheiten und Erregern das Wort "schwerwiegend" als Eigenschaft einer Krankheit durch "bedrohlich" ersetzt.
Welche Bestimmungen enthält das Gesetz in Bezug auf Corona-Tests?
Das Gesetz enthält keinerlei Testpflicht für alle, wie in sozialen Medien gerne behauptet wird. Test sind in bestimmten Situationen vorgesehen. Wer aus einem Risikogebiet kommt, ist verpflichtet, eine Untersuchung auf eine Infektion mit Sars-CoV-2 "zu dulden". Transportanbieter wie Bahn, ÖPNV und Fluggesellschaften sind verpflichtet, Reisende aus Risikogebieten, die keinen negativen Test und keine erforderlichen Nachweise für eine Impfung vorweisen können, nicht zu befördern. Das Gesetz baut außerdem die Kapazitäten für die Corona-Tests, auf die jeder ausnahmslos ein Anrecht haben soll, weiter aus. So fällt der sogenannte Arztvorbehalt weg, nach dem die Tests bisher ausschließlich in Arztpraxen und Krankenhauslaboratorien durchgeführt werden sollten. Corona-Tests dürfen nach der Neufassung beispielsweise auch von Zahnärzten abgewickelt werden.
Was wird in Bezug auf Impfungen festgelegt?
Falsch behauptet wird in sozialen Medien häufig, dass das Gesetz eine Impfpflicht enthält oder ihr den Weg bereitet. Das ist nicht zutreffend. Eine Impfpflicht hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Vorfeld der Abstimmung im Bundestag kategorisch ausgeschlossen. Eine entsprechende Regelung ist in der Vorlage nicht zu finden. Man werde bei den Impfungen "weiter auf Freiwilligkeit setzen", sagte Spahn in einem Rundfunk-Interview.
Welche Kontrollmaßnahmen sind im Gesetz vorgesehen?
Vor allem die sogenannte Krankheitserreger-Surveillance. Träger von Einrichtungen wie etwa Alten- und Pflegeheimen können per Verordnung verpflichtet werden, Daten und Laborergebnisse ihrer Bewohner oder Belegschaft an die zentralen Gesundheitsbehörden wie das Robert Koch-Institut zu übermitteln. Zudem sollen pseudonymisierte Patientendaten übermittelt werden, um ein Register über bereits erfolgte Corona-Impfungen zu ermöglichen. Die Corona-Bestimmungen können auch auf andere Erreger und Krankheiten ausgeweitet werden.
Mit dem Gesetz wird die Kostenübernahme für Quarantänemaßnahmen präzisiert. Was wird hier geregelt?
Das Gesetz präzisiert die Kostenübernahme für Quarantänemaßnahmen aufgrund einer Infektion mit Sars-CoV-2. Bürger haben keinen Anspruch auf die Kostenübernahme, wenn sie zuvor eine vermeidbare Reise in ein Risikogebiet angetreten haben. Was ein Risikogebiet ist, bestimmt das Robert Koch-Institut (RKI). Die bekannten Grenzwerte von 35 beziehungsweise 50 Positiv-Tests auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen sollen in Gesetzesform gegossen werden. Mit dem neuen Gesetz können solche Bürger einen finanziellen Ausgleich erhalten, die einen anderen Menschen, der unverschuldet in Quarantäne ist, betreuen müssen. Außerdem sollen Krankenhäuser, die Operationen aussetzen, einen finanziellen Ausgleich bekommen.
Die Bundeswehr wurde zuletzt zur Pandemiebekämpfung eingesetzt. Gibt es hierzu weitere Vorgaben?
Hilfeleistungen durch die Bundeswehr sind weiterhin nur im Bereich einer Katastrophenlage möglich, etwa beim K-Fall in Bayern. Das Gesundheitsministerium kann aber auf Basis des neuen Gesetzes weitere Hilfsorganisationen zu Einsätzen im Zuge der Pandemiebekämpfung verpflichten. Genannt sind das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfallhilfe, der Malteser Hilfsdienst, der Arbeiter-Samariter-Bund und die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft.
Welche Kritik gibt es am Gesetz?
Die Opposition im Bundestag kritisiert das Gesetz aus unterschiedlichen Gründen. Die Grünen bemängeln, dass das Gesetz so rechtlich ungenau wie die bisherige Rechtlage sei. In der FDP vertritt man die Auffassung, dass der Entwurf keine Rechtssicherheit schaffe und das Parlament ignoriere. Die Linke kritisierte Inhalt und den knappen zeitlichen Rahmen des Verfahrens. Die AfD stilisiert sich als Retter der Grundrechte und will deshalb gegen den Entwurf stimmen.
Einige Juristen bemängeln, dass sich durch das Gesetz am Prozedere in Bezug auf die Corona-Maßnahmen nicht allzu viel ändert. Das Gesundheitsministerium kann die bekannte Palette von Maßnahmen - Betriebsschließungen, Reisebeschränkungen, Einführung von Maskenpflicht und Abstandsgebote - weiterhin ohne Zustimmung des Parlaments verhängen. Das Gesetz zählt lediglich das Instrumentarium auf, das für die Zukunft als legitim gelten soll.
Was passiert gegenwärtig in den sozialen Netzwerken in Zusammenhang mit der Gesetzesnovelle?
Konstruktive, faktisch orientierte Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt tritt leider wieder einmal in den Hintergrund. Stattdessen fluten die Anhänger von Verschwörungstheorien, selbsternannte Experten und Enthüller diese Kanäle mit fragwürdigen oder schlicht falschen Sachverhalten. Auch wurden viele Abgeordnete in den vergangenen Tagen von einer Flut von Spam-E-Mails überschwemmt und aufgefordert, das neue Gesetz zu verhindern. Allein sein Büro habe bis zum Dienstagvormittag etwa 37.000 solche Mails erhalten, berichtete CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Die überwiegende Mehrzahl habe identische Textstellen. Wer dahinter stehe, könne man nicht klären. Auch FDP und Grüne berichteten Ähnliches.
Immer wieder wird im Internet mit dem Terminus "Ermächtigungsgesetz" auf die Novelle Bezug genommen. Der Begriff bezeichnet historisch das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich", das als Durchbruch der NSDAP zur Alleinherrschaft und Beginn der Hitler-Diktatur gilt. Das Gesetz bestimmte, dass die Regierung ohne Zustimmung des Reichstags Gesetze und Verordnungen verabschieden konnte. Damit wurden Legislative und Exekutive in einer Hand vereinigt, die demokratische Gewaltenteilung aufgehoben. Diesen Vergleich haben etliche Stimmen in Berlin aufs Schärfste zurückgewiesen. Außenminister Heiko Maas (SPD) per Twitter: "Völlig unabhängig davon, ob man sie für richtig hält: Die Coronamaßnahmen, die wir beschließen, haben nichts mit dem Ermächtigungsgesetz zu tun. Wer so infame Vergleiche anstellt, verhöhnt die Opfer des Nationalsozialismus und zeigt, dass er aus der Geschichte nichts lernt."