Kultur

Die Moral der Macht

Mateja Koležniks Inszenierung von "Antigone" überzeugtim Residenztheater


Im Sitzungssaal entscheidet sich Antigones (Vassilissa Reznikoff, im weißen Kleid) Schicksal.

Im Sitzungssaal entscheidet sich Antigones (Vassilissa Reznikoff, im weißen Kleid) Schicksal.

Von Mathias Hejny

Den euphorischen Schlussapplaus am Premierenabend unterbrach der Autor selbst, um Goethe zu zitieren: "Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung zu ertragen", kommentierte der struppige Philosophie-Star Slavoj Žižek das "Antigone"-Doublefeature unter Verwendung seines Dramas "Die drei Leben der Antigone". Der Dichterfürst soll diesen Satz 1793 im Angesicht der Lynchjustiz gesagt haben, deren Augenzeuge er im vom revolutionären Frankreich besetzten Mainz war.

Adressiert war das damals nicht an die Besatzer, sondern an die Bevölkerung, die sich gegen die Jakobiner in ihrer Stadt erhob und auf die erlebte Gewalt mit Pogromstimmung antwortete. Diesen Beitrag aus der Weimarer Klassik hätte freilich die Inszenierung von Žižeks slowenischer Landsmännin Mateja Koležnik im Residenztheater nicht unbedingt gebraucht. Mit der schon bei Sophokles angelegten Vielstimmigkeit kann sie virtuos umgehen wie nur wenige andere.

Bereits vor acht Jahren hatte sie an gleicher Stelle beim "König Ödipus" - gewissermaßen die vorangegangene Episode der Familienserie über die thebanischen Royals - mit großer und geradezu chirurgischer Präzision die Fragen über Macht und Moral untersucht. Oft stellt sie kühl fest, dass eindeutige Antworten nicht die Lösung, sondern das Problem sein können. Es kann dann passieren, dass eine freie, demokratisch verfasste Gesellschaft wie unsere Schmerzhaftes lernen muss: Nicht alles, was vom Volk ausgeht, muss auch gut ausgehen.

So dringt am Ende von Koležniks "Antigone" ein brandschatzender Mob in den Königspalast ein. Die Ähnlichkeit mit den Bildern vom Sturm auf das Capitol durch Trumpisten Anfang 2021 ist sicherlich nicht zufällig.

Dabei hatte Bühnenbildner Christian Schmidt Kreons Regierungssitz schon in einen bunkerhaften Hochsicherheitstrakt verlegt. Selbst der Gang zur Toilette setzt den Besitz einer Keycard und die Kenntnis eines vierstelligen Zahlencodes voraus. Vor der Pause ist der unwirtliche Flur vor dem Sitzungssaal der Schauplatz. Gerade ist der Bürgerkrieg, den das königliche Bruderpaar Eteokles und Polyneikes begonnen hatte, mit deren Tod zu Ende gegangen.

Ihr Onkel Kreon wird König und ordnet das Begräbnis des Eteokles an, verbietet aber die Bestattung von Polyneikes, dessen Leiche vor der Stadt den Tieren überlassen werden soll. Antigone aber besteht auf der Familientradition, auch ihren Bruder Polyneikes würdevoll beizusetzen. Kreon lässt seine Nichte festnehmen und verurteilt sie zum Tode. Was sich am Tagungsort abspielt, erfährt das Publikum zunächst nur bruchstückhaft, wenn für kurze Augenblicke die Tür geöffnet ist.

Ansonsten huscht politisches Personal durch die Gänge, man diskutiert oder streitet in kurzen Wortscharmützeln, die Schwestern Antigone und Ismene (Linda Blümchen) tuscheln in dieser für sie offensichtlich fremden Umgebung miteinander und für manche lange Momente passiert dort überhaupt nichts. Erst nach der Pause dürfen die Zuschauenden ins nussbaumfurnierte Allerheiligste und erleben nun die Handlung, die noch einmal erzählt wird, aus einer anderen Perspektive.

Dort wird bei Kaffee und Schnittchen die Lage erörtert. Wortmächtig streiten der Demokrat (Thiemo Strutzenberger) und die Humanistin (Hanna Scheibe) mit dem Royalisten (Thomas Lettow) und dem Veteran (Michael Goldberg). Unterdessen ringt, nicht immer mit Erfolg, Kreon (Oliver Stokowski) darum, die staatsmännische Contenance zu wahren.

Die geht schon einmal verloren, wenn er scheppernd gegen den blechernen Papierkorb tritt, weil der Sohn Haimon (Vincent zur Linden) und Nichte Antigone bockig werden.

Vassilissa Reznikoff als Titelheldin schafft mit diskretem Charme die brisante Ambivalenz zwischen dem humanistischen Widerstand einer jungen Frau gegen eine als ungerecht empfundene Ordnung und einer Dogmatikerin, die jeden Zweifel an ihrer Position zurückweist.

Residenztheater, morgen, 16., 22. Februar 2023, 19.30 Uhr, Karten unter Tel. 089/ 21851940