Kultur
Ein Sinnbild für die neue Welt
17. Februar 2023, 17:01 Uhr aktualisiert am 19. Februar 2023, 13:43 Uhr
Der Konflikt zwischen politischem Kalkül und pragmatischer Gesetzgebung einerseits, familiärer Tradition und verletztem Gerechtigkeitsgefühl andererseits macht die 447 Jahre vor unserer Zeitrechnung uraufgeführte Tragödie von Sophokles bis heute und auch für die nächste Zukunft zum brisanten Stück Theater. Seit drei Wochen ist die um Traditionen ringende Königstochter Antigone im Residenztheater mit Texten des zeitgenössischen Philosophen Slavoj iek zu erleben. Eine weiter gehende Überschreibung hat als "Anti-gone" heute in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele Premiere. Die AZ sprach mit Regisseurin Nele Jahnke über Sonderzeichen, Inklusion und Leichte Sprache.
AZ: Frau Jahnke, Ihre Kollegin Mateja Kolenik hat im Residenztheater ihre "Antigone" in einen Regierungsbunker verlegt. Wie stellen Sie sich einen Raum für Ihre Antigone vor?
Nele Jahnke: Der Raum ist abstrakter und nicht so konkret wie ein Regierungsbunker. Wir haben versucht, eine sehr atmosphärische Welt zu etablieren. Ein wichtiges Element ist ein großer, fast überdimensionaler Tisch, der dazu dient, sowohl der Zentrum einer Familie zu sein, was bei dieser Familie nicht so richtig klappt, als auch ein Ort, an dem einzelne Figuren etwas einsam zurückbleiben oder darin auch gefangen sind.
Die Kammerspiele werben damit, dass das Stück in Leichter Sprache aufgeführt wird. Welche Textfassung verwenden Sie und wie machen Sie Sophokles leichter?
Wir arbeiten mit der Übersetzung von Peter Krumme und haben Anne Leichtfuß, eine Übersetzerin in Leichte Sprache, gefragt, ob sie Lust hat, mit uns auf diese Reise zu gehen. Es gibt in Köln eine Kontrollgruppe von fünf kognitiv beeinträchtigten Menschen, die die Übersetzung lesen und darüber diskutieren, was sie verstanden haben. Das war ein großes Abenteuer, denn diese Gruppe übersetzt normalerweise Nachrichten, wo die Information am Ende des Texts aufgelöst wird. Wir haben viel darüber gesprochen, was ein Spannungsbogen ist und was es heißt, wenn man eine Information nicht sofort vollständig hat. Dadurch gewinnen gewisse Fragen und Verhandlungen eine stärkere Direktheit, manche Themen schälen sich neu heraus wie zum Beispiel das Frauenbild, das in der Übersetzung in Leichte Sprache deutlicher wurde.
War Ihr Ensemble, das zum Teil aus kognitiv beeinträchtigten Schauspielerinnen und Schauspielern besteht, auch beteiligt?
Es wurde sehr fleißig von unseren Spielern herumgefeilt im Sinne der Figuren und auch noch ein bisschen Text von Jean Anouilh hineingenommen. Es war von vorneherein klar, dass wir bei der Leichten Sprache nicht dogmatisch sein werden. Wenn ein Satz mehr als acht Wörter hat, wie es eigentlich sein soll, ist das auch in Ordnung.
Die meisten von uns haben sich an Sonderzeichen wie Sternchen oder Doppelpunkte in Hauptwörtern gewöhnt. Was bedeutet nun das kleine schwarze Quadrat zwischen "Anti" und "Gone"?
Es ist eigentlich ein Interpunktionspunkt in der Mitte. Es gibt grafische Probleme, diesen Punkt darzustellen. In der Leichten Sprache trennt man, zum Beispiel, das zusammengesetzte Hauptwort "Überschrift" als "Über-Schrift". Dieser Punkt ist eine etwas modernere Variante, in der man ihn freier verwenden und als Lesehilfe einsetzen darf. Wir fanden, dass das eine schöne Reverenz an die Leichte Sprache ist.
Angekündigt wird auch ein "alternatives Ende". Dürfen Sie vom neuen Schluss schon etwas verraten?
Ich hatte von Anfang an das Bedürfnis, dieses Ende, in dem steht, dass wir nur durch das Leiden zu Erkenntnis kommen, ersetzen durch eine Welt, in der das nicht der Fall sein muss. Der Bote kommt schon noch, aber wir landen nun in einer Form von Jetzt und fragen, welche Geister wir noch im Jahr 2023 mit uns herumtragen. Wir haben versucht, ein Sinnbild für eine neue Welt zu finden, was jetzt ein bisschen pathetisch klingt. Es wird aber ganz konkret damit enden, dass wir auf der Bühne etwas Neues bauen.
Sie gelten als die Fachfrau für inklusives Theater. Wie sind Sie auf diesen Weg gekommen?
Als ich 14 Jahre alt war, kam ich mit dem Jugendclub der Berliner Volksbühne für sehr wenig Geld ins Theater. Das war schon einmal eine starke Theatersozialisation. Ich habe dort die ersten Arbeiten von Christoph Schlingensief gesehen, der mit Beeinträchtigten gearbeitet hat. Als ich zum ersten Mal Horst Gelonnek auf der Bühne sah, ging etwas in mir auf. Es fühlte sich an, als wäre ich zu Hause angekommen. Zum Abschluss meines Regiestudiums in Zürich habe ich eine freie Produktion mit beeinträchtigten Menschen, die das nicht professionell machen, aber Lust auf Theater haben, inszeniert. Die haben Leute vom Theater Hora gesehen, die mich fragten, ob ich nicht zu ihnen kommen will. Die haben mir das Theater zurückgeschenkt, denn nach diesem Studium zwischen Coolness und Verkopftheit würde ich wahrscheinlich kein Theater mehr machen.
Was macht "Antigone" zu einem Stoff für inklusives Theater?
Das habe ich mich noch nie gefragt. Eine gewisse Zugänglichkeit haben wir durch die einfachere Übersetzung. Aber es liegen darin Fragen und Konflikte, die alle etwas angehen und die man sowohl intellektuell als auch intuitiv verstehen kann - was die Kolleginnen und Kollegen auch hier und auf beiden Ebenen tun. Ich weiß gar nicht, was es für einen Stoff sein sollte, den man nicht machen könnte. Vielleicht, wenn der Text nur auf einer Metaebene läuft. Dann braucht man einen anderen ästhetischen Zugriff als den, jemand spricht einen komplizierten Text. Man kann es auch über die Körper laufenlassen. Dann kann es trotzdem ein inklusives Stück mit kognitiv Beeinträchtigen sein.
Münchner Kammerspiele, Premiere am 18. Januar, nächste Vorstellung am 20. und 25. Februar