Salzburger Festspiele
Alexander Kluge redet über das Jahrhundert
3. August 2020, 17:59 Uhr aktualisiert am 3. August 2020, 18:54 Uhr
Der Filmemacher Alexander Kluge spricht in der Felsenreitschule über das Jahrhundert.
Es war, als schleiche nicht der Geist Agamemnons, sondern der des Filmemachers und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief durch die Salzburger Felsenreitschule. Alexander Kluge war beim Auftakt der Festspiel-Reihe "Reden über das Jahrhundert" bereits eine Dreiviertelstunde durch das vergangene Säkulum mäandert. Dann zeigte er dem Publikum den Biologie-Lehrfilm eines Schwarzspechtweibchens, das sein Junges aus dem Bau wirft und zerfleischt. Die letzten Zuckungen des Kadavers gab es als Großaufnahme.
Kluge entschuldigte sich kurz für die Zumutung, die ein wenig an den Hasen erinnerte, der zwischen 2004 und 2007 im Bayreuther "Parsifal" verweste. Aber im Bühnenbild der Richard-Strauss-Oper "Elektra" müsse der Hinweis gestattet sein, dass es außer den mutter- und gattenmordenden Atriden auch noch andere schreckliche Familienverhältnisse gebe.
Tadzios zweites Leben
Der 88-jährige kam an seinem kleinen Tischchen auf der riesigen Bühne vom Hundertsten ins Tausendste. Kluge sprach über Bombennächte in seiner Heimat Halberstadt und spekulierte über das weitere Leben des Tadzio aus Thomas Manns "Tod in Venedig", der als polnischer Kavallerist den deutschen Überfall von 1939 kaum überlebt haben dürfte. Und wenn doch, hätte ihn das russische NKWD ein Jahr später zusammen mit anderen Offizieren und Intellektuellen in Katyn umgebracht.
Kluge brachte den "Jedermann" mit Luigi Nonos "Prometeo" und dem Daphne-Mythos zusammen. Die These, dass die Oper, das Theater bei Festspielen eine Art kollektiver Trauerarbeit leiste, bildete ein Leitmotiv der Rede, die am Beispiel von Aeneas illustrierte Bedeutung von Flucht und Vertreibung in der (Kultur-) Geschichte ein zweites.
Bei all der Bildungsarbeit wirkte es überzeugend, dass Kluge sich einen "Patriot der Bücher" nennt, der noch heute den Brand der Bibliothek von Alexandria betrauert. Zwischen den Abschnitten der Rede sponnen kleine Filme, wie man sie aus seinen nächtlichen dctp-Kulturmagazinen kennt, die Thesen weiter.
Wenn Galaxien sich durchdringen
Dass sich in einigen Milliarden Jahren die Milchstraße und der Andromeda-Nebel durchdringen, ohne dass ein Planet dabei Schaden nimmt, wirkte als universaler Ausblick nach den Scheußlichkeiten des letzten Jahrhunderts irgendwie tröstlich, auch wenn wir das Ereignis wohl nicht mehr erleben werden. Kluge lässt hin und wieder durchblicken, dass die eine oder andere seiner Geschichten erfunden sein könnte. Aber er macht nicht jedes apokryphe Adorno-Zitat kenntlich. Dass Bach in Leipzig als Sonderling gegolten habe, weil er vor jeder Kantatenaufführung durch die Messung seines Pulses das musikalische "Tempo ordinario" nach Tagesform ermittelt habe, wird man in der einschlägigen Literatur vergeblich suchen.
Aber: "Se non è vero, è molto ben trovato" - Wenn es nicht wahr ist, so doch gut erfunden, sagte der von Kluge nicht erwähnte Universalgelehrte Giordano Bruno. Ebenfalls unerwähnt bliebt der Grund für Abwesenheit des ursprünglich angekündigten Malers Georg Baselitz. Aber sein Gespräch mit Kluge über den Zorn wartet in jeder Salzburger Buchhandlung auf den geneigten Leser.
Am 9. 8. spricht Navid Kermani, am 15. 8. Anita Lasker-Wallfisch, am 22.8. Elisabeth Orth. Karten unter www.salzburgfestival.at. Das Buch "Weltverändernder Zorn" von Alexander Kluge und Georg Baselitz in der edition suhrkamp (237 S., 28 Euro)