229 Meter hinter Severin Freund
So fühlt sich Fliegen an – ein Volontär macht den Selbstversuch im Skispringen
12. Februar 2015, 14:07 Uhr aktualisiert am 12. Februar 2015, 14:07 Uhr
Langsam steige ich die letzten Stufen nach oben. Vorsichtig stelle ich mich auf die langen Ski und befestige meine Schuhe darauf. Ich setze mich auf den Balken, rutsche in die Mitte und lege meine Ski in die Eisspur. Ich rücke meine Skibrille zurecht und kontrolliere die Bindung. Ich atme tief ein, werfe einen letzten Blick die Anlaufspur hinunter. Dann stoße ich mich ab.
Rückblick - zwei Stunden zuvor. Ich bin an der Baptist-Kitzlinger-Schanze in Rastbüchl, einem Ortsteil der Gemeinde Breitenberg. An dieser Schanze trainiert der WSV-DJK Rastbüchl. In der Gaststätte neben der Schanze zeigt mir Alois Uhrmann meine Ausrüstung für den heutigen Tag: Sprungski, einen Sprunganzug, Skisprungschuhe und einen Helm. Alois Uhrmann ist ehemaliger Skispringer und erster Vorstand des Vereines. "Die Ausrüstung ist die vom Severin", erzählt der Skisprungexperte. Gemeint ist Severin Freund - Olympiasieger und derzeit bester Skispringer im deutschen Team. Das Springen hat er in Rastbüchl gelernt. Ich darf also in den Anzug eines Olympiasiegers steigen. Bin ich dem überhaupt würdig?
Dieselbe Schuhgröße
Schon viele Jahre bin ich Skisprung-Fan. Mich fasziniert die Leichtigkeit, mit der die Springer scheinbar schwerelos durch die Luft fliegen. Heute möchte ich das selbst ausprobieren. Eine wichtige Voraussetzung bringe ich mit: Ich bin ein guter Skifahrer. Doch die Ski, mit denen ich die Schanze hinunterfahren werde, haben mit normalen Ski wenig gemeinsam. Sprungski haben keine Kanten an den Rändern. Das macht das Lenken und Bremsen schwer. Außerdem sind sie länger als gewöhnliche Ski. Mit 2,55 Metern überragen mich meine Sprungski um 70 Zentimeter.
Ich quetsche mich in den Skianzug. Severin Freund ist wohl etwas schmaler als ich. Nach einigem Ziehen und Zerren habe ich es geschafft und stecke im Sprunganzug meines Vorbilds. Er ist sehr eng, aber das soll er auch sein, denn "es dürfen maximal ein bis drei Zentimeter Luft zwischen dem Anzug und dem Körper des Springers sein", erklärt Alois Uhrmann. Als nächstes sind die Schuhe dran. Anders als normale Skischuhe werden sie vorne nur bis zum Knöchel geschnürt und haben eine bewegliche Sohle. So kann sich der Springer nach vorne lehnen. Nach hinten jedoch nicht, denn da ist der Schuh fest. Die Sprungschuhe sitzen gut. Severin hat wohl dieselbe Schuhgröße wie ich. Ich setze meinen Helm auf, schultere meine langen Ski und mache mich auf den Weg zur Schanze.
Erste Fahrversuche
In Rastbüchl gibt es drei Schanzen. Auf der Großschanze geht es etwa 74 Meter weit, auf der Jugendschanze 35 Meter und auf der Kinderschanze 15 Meter. Von der kleinsten darf ich springen. Neben dem Schanzentisch der Kinderschanze lege ich meine Ski in den Schnee. Der Schanzentisch ist das Ende einer Skisprungschanze. Alois Uhrmann zeigt mir, wie ich in die Bindung steigen soll. Anders als bei normalen Ski muss ich meine Schuhe an beiden Enden selbst befestigen. Vorne klappe ich zwei Hebel um, hinten schiebe ich einen Stecker, der am Ski befestigt ist, in den Skischuh. Es dauert einige Zeit, bis beide Schuhe auf den Ski festgemacht sind.
Nach zwei Fahrversuchen mit den langen Brettern darf ich endlich auf die Schanze - erstmal auf halber Höhe. Ich schnalle meine Ski an. Alois Uhrmann legt den Balken, auf dem ich starte, über die Anlaufspur. Ich rutsche hinauf. "Fahr' am Ende der Schanze durch und versuch' noch nicht abzuspringen", betont der Skisprungexperte. Ich nicke, gleite die Anlaufspur hinab und lande auf dem Schnee. Die erste Fahrt in der Eisspur hat sich gut angefühlt. Jetzt will ich mehr - noch weiter.
Der große Sprung
Motiviert packe ich meine Ski und steige den Berg wieder hinauf. "Sollen wir weiter nach oben?", fragt der ehemalige Skispringer. Ich nicke. Wir steigen einige Stufen hinauf. Ich stelle mich auf meine Ski und befestige die Schuhe in der Bindung. Vorsichtig rutsche ich wieder auf den Balken und blicke hinab. Von unten sah die Schanze noch ziemlich harmlos aus - von hier oben nicht mehr. Der Anlauf ist etwa 15 Meter lang. Es geht steil hinab. Diese kleine Schanze jagt mir großen Respekt ein. Ich schlucke und hole tief Luft. Jetzt bloß nichts falsch machen! Ich versuche, mich zu konzentrieren und kontrolliere die Bindung. Es hat leicht zu schneien begonnen und der nasse Schnee weht mir entgegen. Ich drücke die Skibrille auf mein Gesicht und rutsche nervös mit den langen Ski in der Anlaufspur auf und ab. Es klackt, als die Ski die Ränder der Eisspur berühren. Die Schneeflocken haben sich auf meine Brille gelegt. Ich wische sie mit den Handschuhen weg und atme noch einmal tief durch. Ich richte meinen Blick nach vorne. Dann stoße ich mich ab.
Ich gehe in die Hocke und lege meine Hände nach hinten. Genau so, wie ich es vorher im Fernsehen schon tausend Mal gesehen habe. Der Fahrtwind zischt an mir vorbei und ich spüre die Kälte durch den dünnen Skianzug. Ich werde immer schneller. Die Ski schlagen links und rechts gegen die Ränder der Eisspur. Mein Blick ist nach vorne gerichtet. Das Ende der Schanze kommt immer näher. Ich gehe noch tiefer in die Hocke und bereite mich auf den Absprung vor. Intuitiv richte ich mich auf, nehme die Arme nach vorne und springe ab. Dann bin ich in der Luft. Das Pfeifen des Windes verstummt. Ich nehme die Arme zurück und versuche, die langen Ski zu kontrollieren. Ich fliege. Das Gefühl ist unglaublich. Ich fühle mich schwerelos. Doch ich schwebe nur kurz. Schon lande ich und die Ski schlagen am Boden auf. Ich versuche, das Gleichgewicht zu halten, strecke meine Arme weg und rase den Hügel hinab. Das Ende des Auslaufs kommt näher und ich bremse vorsichtig. Schließlich komme ich zum Stehen. Ich drehe mich um, und schaue zur Schanze zurück. Ich habe es geschafft. Ich habe meinen ersten Sprung von einer Skisprungschanze gemacht.
Meine Bestweite: 8,50 Meter
Stolz schnalle ich meine Ski ab und gehe zurück. Oben an der Schanze angekommen steige ich schon fast geübt in die Anlaufspur und mache meine nächsten Sprünge. Von Sprung zu Sprung werde ich sicherer und mutiger. Eines kann ich leider nicht vermeiden: Einen Sturz. Eine Sekunde nicht ganz aufmerksam sein reicht, dass sich im Auslauf meine Ski überkreuzen und ich im Schnee lande. Doch das schreckt mich vor weiteren Sprüngen nicht ab. Die Faszination Skispringen hat mich endgültig gepackt.
Zurück in der Gaststätte schaue ich Videos meiner Sprünge an. Besonders elegant sieht mein Sprungstil nicht aus. Aber ich bin stolz. Mein weitester Sprung ging 8,50 Meter. Ich ziehe die Schuhe aus und befreie mich aus dem engen Sprunganzug von Severin Freund. Seine Bestweite liegt bei 237,5 Meter. Ich liege also 229 Meter hinter dem Olympiasieger. Für den Anfang gar nicht schlecht, oder?