Und plötzlich kennt dich jeder nackt

Sexting unter Jugendlichen: reizvoll und gefährlich zugleich


Die Aufklärungskampagne der Schweizer Organisation "Pro Juventute" zum Thema Sexting soll Jugendliche sensibilisieren, vorsichtiger mit sogenannten Selfies umzugehen und bietet Hilfe im Ernstfall an. (Foto: Projuventute)

Die Aufklärungskampagne der Schweizer Organisation "Pro Juventute" zum Thema Sexting soll Jugendliche sensibilisieren, vorsichtiger mit sogenannten Selfies umzugehen und bietet Hilfe im Ernstfall an. (Foto: Projuventute)

Von Kerstin Weinzierl

Es geht ganz schnell. Sie posiert oben ohne, fotografiert sich mit dem Handy und schickt das erotische Selfie ihrem Schulfreund. Sexting ist "in", das macht doch jeder. Er allerdings sendet das Bild weiter an seine Mitschülerin, die postet es auf Facebook. Tags darauf in der Schule: Von allen Seiten wird die Zwölfjährige auf ihr Oben-ohne-Bild angesprochen. Scham, Angst, Wut - für das Mädchen bricht eine Welt zusammen.

Das ist vor ein paar Wochen in einer Stadt in der Oberpfalz passiert. Kein Einzelfall, im Gegenteil: Die Anzeigen häufen sich, macht Diplom-Pädagoge Bernhard Nagelschmidt vom Amt für Jugend und Familie in Cham auf einen Trend aufmerksam, der aus den USA kommt und auch Deutschland erreicht hat. "Sexting" nennt der Fachmann das Phänomen, ein Begriff, der sich zusammensetzt aus "Sex" und "texting" - dem englischen Wort für das Versenden von SMS. Jugendliche fotografieren sich nackt oder leicht bekleidet (zum Beispiel in Unterwäsche), teilweise in aufreizender Pose, und versenden die Aufnahmen per Handy an Freund oder Freundin, sei es als Liebesbeweis oder als Selbstbestätigung.

Die ganze Klasse kennt meine Fotos

Das Sexting an sich ist nicht das Problem. Zum Problem werden diese erotischen Bilder dann, wenn sie ohne das Einverständnis des Abgebildeten weitergeleitet werden, wenn in Windeseile im Schneeballeffekt über Clique und Klasse die halbe Schule die Nacktfotos kennt, wenn der Gang zum Klassenzimmer zu einem Spießrutenlauf wird, wenn die Fotos gar zum Mobbing genutzt werden. "Sexting kann dich berühmt machen!" lautet deshalb der ironische Slogan, mit dem die Schweizer Organisation "Pro Juventute" eine Aufklärungskampagne gestartet hat.

"Weiterleiten" - wie schnell und wie leicht ist dieser Button auf den Smartphones gedrückt? Dabei sind die Beweggründe ganz unterschiedlich: Rache der ehemals allerbesten Freundin, Frust des Ex-Freundes, Prahlerei eines Jungen oder einfach nur Gedankenlosigkeit. Einer 14-Jährigen aus der nördlichen Oberpfalz ist genau diese Unbedachtheit zum Verhängnis geworden. Sie schickt erotische Fotos an ihren Freund und gleichzeitig an ihre beste Freundin. Natürlich in der Annahme, dass diese die intimen Bilder für sich behält. Die allerdings sendet die Aufnahmen wiederum ihrer besten Freundin mit dem Zusatz "Sag's ja nicht weiter!". Warum? "Ich war beeindruckt von den tollen Aufnahmen und wollte sie nur schnell meiner Freundin zeigen. In diesem Augenblick war mir wirklich nicht bewusst, was ich damit anrichte", wird sie später reumütig sagen. Was sie damit "angerichtet" hat, zeigt sich in kurzer Zeit. Die Fotos erreichen, nachdem sie in der Zwischenzeit auf unzähligen anderen Smartphones gelandet sind, ein zweites Mal das Handy des Freundes. Dieses Mal allerdings kommen sie nicht von seiner Freundin, sondern von seinem Kumpel! In der Annahme, dass seine Freundin die Nacktfotos Gott und der Welt geschickt hat, beendet er die Beziehung und startet zusätzlich auf Facebook eine Hetzkampagne gegen seine Ex.

SnapChat: Vorsicht ist geboten

In der Regel wird für das Versenden der intimen Fotos SnapChat verwendet, eine vermeintlich sichere App, über die man Bilder zwischen Smartphones verschicken kann. Diese App verspricht, dass die Fotos nur wenige Sekunden sichtbar sind und sich danach selbst zerstören. Doch Vorsicht: Auch in diesen wenigen Sekunden lässt sich ein Screenshot machen und das Foto ist gespeichert. Außerdem sind inzwischen einige Möglichkeiten bekannt, gelöschte Bilder wiederherzustellen. Immer wieder stößt Birgit Zwicknagel, Beraterin für mehr Medienkompetenz bei den Computermäusen Stamsried im Landkreis Cham, in ihrer täglichen Arbeit auf solche Fälle.

"Sobald dein intimes Foto dein Handy verlassen hat, hast du keine Kontrolle mehr darüber!", warnt die Fachfrau. Jugendliche machen sich oft wenig Gedanken darüber, wie schnell sich die Bilder im Internet verbreiten. Dabei können die Aufnahmen nicht nur auf den Handys der Mitschüler landen, sondern auch völlig aus dem Zusammenhang gerissen oder verändert auf Pornoseiten wieder auftauchen. Immer wieder passiert es, dass Jugendliche mit ihren Nacktfotos erpresst werden: "Schick' mir noch mehr solcher Bilder, sonst poste ich dein Foto auf Facebook!"

Wer Fotos weiterleitet, macht sich strafbar

Der Grundgedanke des Sextings - seinem oder seiner Liebsten ganz persönliche Fotos zu schenken - ist nichts Verwerfliches, so Birgit Zwicknagel: "Das hat es schon immer gegeben und ist an sich nichts Neues!" Nur sei man früher in ein Fotostudio gegangen, hatte die Negative zu Hause und überraschte seinen Freund mit einem Abzug. Der Trend gehe auch wieder in diese Richtung, so Zwicknagel, die selbst ein Fotostudio betreibt. Viele Teenies kehren zurück zum klassischen Foto, das sei persönlicher. Der positive Begleiteffekt: Ein gerahmtes Foto wird nicht einfach so unter Freunden weitergegeben. Endet die Beziehung, wird es aus Wut oder Rache gegen die Wand gedonnert und schlimmstenfalls zerrissen!

Der Button "Weiterleiten" hingegen ist schnell gedrückt, vor allem wegen der scheinbaren Anonymität der Handys. Birgit Zwicknagel stellt immer wieder fest, dass vielen die Tragweite ihres Tuns gar nicht bewusst ist, sie fühlen sich nicht als Täter. Dabei machen sich Jugendliche, die solche erotischen Fotos weiterleiten, sehr wohl strafbar. Auch der minderjährige Sexter selbst und der Empfänger seiner Bilder bewegen sich auf dünnem Eis: Sie können vor Gericht wegen Kinderpornographie belangt werden.

Birgit Zwicknagel fasst das Thema Sexting in einem einfachen Ratschlag zusammen: "Gib nie ein Foto weiter, von dem du nicht willst, das es am nächsten Tag auf der Titelseite der Zeitung erscheint." Verbreitet sind die intimen Fotos schnell, zu löschen sind sie kaum mehr. Einmal im Netz, immer im Netz. Das Internet vergisst nichts!