Nach Unfall querschnittsgelähmt
Matthias Keck kämpft sich im Rollstuhl zurück in ein selbstständiges Leben
19. Juli 2023, 12:00 Uhr
Hinweis: Das ist Teil eins von drei der Auszüge aus Matthias Kecks Tagebuch. Alle Teile im Überblick:
Unser Kollege (21) ist nach einem schweren Unfall querschnittsgelähmt. Trotzdem sagt er: „Ich habe ein Leben geschenkt bekommen.“ Wir veröffentlichen Auszüge aus seinem privaten Tagebuch.
6. Juni 2023, 10 Uhr
Das Dümmste, was ich je getan habe: Eine gute Freundin widerspricht und lacht laut, als ich den 30. Mai 2023 mit dem Satz beschreibe. Der Tag, an dem ich gegen 23 Uhr entlang der Landshuter Stadtmauer huschte und wegen überhängender Äste den Knick in der Ziegelwand übersah. Ich trat ins Nichts, stürzte etwa sechs Meter tief und erlitt einen Querschnitt am zwölften Brustwirbel. Per Helikopter wurde ich ins Unfallzentrum nach Murnau gebracht, wo ich nun lerne, ein neues Leben im Rollstuhl zu führen. Ich freue mich darauf, denn es wird genauso lebenswert wie mein bisheriges sein.
Bestimmt war der Unfall die folgenreichste Leichtsinnigkeit meines Lebens, aber nicht die dümmste. Ohne nachzudenken, einfach drauflos – oft lief mein bisheriges Leben genau so. [...] Alles das, einfach das ganze Leben habe ich immer genossen. [...] Weil ich es mir damals wieder und wieder eingeredet habe, als noch schier alles für mich möglich war, glaube ich genau das immer noch. Auch jetzt, als Querschnittgelähmter, jede Sekunde seit dem Unfall.
Nur ist das nichts, was ich leiste. Das ist das Ergebnis von 21 Jahren mit dem besten Umfeld der Welt. [...] Ich habe Freunde, die mich – ich zitiere aus einer Nachricht – hinschieben werden, „wo auch immer die Sonne aufgeht“. [...]
Viele fragen, wie ich nach dem Unfall so positiv bleiben kann. Aber ich bin nicht positiv, sondern alle um mich herum. Ich zehre von den gemeinsamen Erinnerungen. Nur so habe ich stets die Zuversicht behalten in der vergangenen Woche, in der ich kaum länger als eine Stunde aufrecht saß und sonst nur lag. Wer sich also fragt, warum ich den Mut behalte, muss um mich herum schauen. [...]
10. Juni 2023, 16 Uhr
[...] Anfangs habe ich 24 Stunden im Bett verbracht, dieser Anteil nimmt nun täglich ab. Tags zuvor waren es eine Stunde zu Mittag und eine Stunde zu Abend im Rollstuhl, meinem Begleiter und Helfer, meinem Ermöglicher. [...] Ich fühle mich gut, als ich zum Abendessen in den Gemeinschaftsraum rolle. Die drei Damen am Tisch grüßen freundlich. Man führt Small Talk.
Und dann, nach einer Minute: die Frage. Dass sich die Leute wundern, warum ich junger Kerl so aufgeweckt plaudere. [...] „Wann war dein Unfall?“, werde ich gefragt. Es ist Samstag, der zweite, seit mich ein Helikopter nach Murnau geflogen und Ärzte mir eine Handvoll Titannieten und weitere Metallteile in den gebrochenen Rücken geschraubt hatten. [...]
„Ach was, so frisch der Unfall? Und so glücklich?“ Ich erkläre. Nachdem ich jetzt so eingeschränkt bin, bleibt mir ja nichts übrig, als alle Freude des Lebens zu genießen. [...] Der körperliche Zustand ist schlimm genug, da wäre es unangebracht, auch noch schlecht drauf zu sein. [...]
Wie das sein kann, dass ich nicht hadere. Es ist einfach so, versichere ich. „Das werden die Medikamente sein.“ Man glaubt mir nicht. Dabei bin ich nicht vernebelt. Ich habe auch meinen Sturz genau vor Augen: abgerutscht, sechs Meter! Während ich falle, bin ich sicher, ich sterbe. Dann trete ich weg, nicht lange, keine Minute.
Ich wache auf und alles ist klar: Ich habe ein Leben geschenkt bekommen. Ich spüre meine Beine nicht, alles taub, ich bin querschnittgelähmt. Also muss ich ab jetzt alles tun, um als Rollstuhlfahrer glücklich zu werden – das ist die Aufgabe für den Rest meines Lebens. Das alles erkenne ich in dem einen Moment, und die Erkenntnis ist seitdem geblieben.
11. Juni 2023, 13.30 Uhr
[...] Die Zeit, die ich noch gezwungen bin, im Bett zu fristen, verbringe ich mit zweierlei: lesen und ins Handy schauen. Ich wische durch Fotos vom Badeweiher Mitte Mai. Da rannten wir, ein sauguter Freund, eine weitere Freundin und ich, nackt ins Wasser. [...] Ins Wasser rennen, das habe ich damals zum letzten Mal getan, ohne es zu ahnen. Als ich vor wenigen Tagen daran dachte, weinte ich. Es war eine dieser befreienden Heulattacken. Jetzt grinse ich: kürzlich das letzte Mal rennen… und bald das erste Mal rollen!
12. Juni 2023, 8 Uhr
Anfang vergangener Woche war das erste Mal Rollstuhl geplant: Ich schwebte im Frosch, einer Tuch-Konstruktion, die Gelähmte vom Bett in einen Rollstuhl befördert. Schon bei wenigen Zentimetern in Hockposition rebellierte mein Körper. [...] Das Körpergefühl löste sich, wie ein klebriges Pflaster von der glatten Haut, ganz zäh und schmerzhaft von meinem Geist. Trotzdem krächzte ich immer wieder Satzbrocken wie: „Alles gut!“ Nach einigen Minuten mit der Physiotherapeutin, die mich herumschob, war Ende. [...]
Vor drei Tagen habe ich eine Stunde mittags und eine Stunde abends im Rollstuhl gezittert, gegessen, ausgeharrt. Danach war der Kreislauf wieder tot. Wer den restlichen Tag nur liegt, gerade erst ein neues, metallenes Rückgrat bekommen hat und den Körper nur noch Rippen aufwärts spürt, für den ist simples Sitzen Hochleistungssport. Erstmal.
Vorgestern waren es insgesamt sechs Stunden, voll Genuss – aber abends im Bett rächte sich der Körper. Völlige Entkräftung, ohne einschlafen zu können. Scheinbar waberte durch das rechte Bein eine riesige Menge feuchter Sand, ich spürte ein störendes, drückendes Rauschen. Denn mein Rückenmark ist nicht durchtrennt, ich habe einen sogenannten inkompletten Querschnitt erlitten. Gewisse Signale gelangen noch völlig willkürlich hindurch. Ein Segen, ein Fluch. [...]
Gestern besuchten mich Mama, Papa und ein Onkel. Den Nachmittag verbrachten wir im Klinikgarten, mal im Schatten, mal in der Sonne, teils wälzten sie mich Hügel hinauf, dann stotterten sie mich Abfahrten hinab. Wir hatten eine wirklich schöne Zeit. Mama kümmerte sich rührend um mich. Decke drüber? Raus aus dem Zugwind? Noch ein Schluck Wasser? Papa richtete unzählige liebe Grüße aus dem Heimatdorf aus. Und mein Onkel berichtete stolz von den Umbauten an der heimischen Terrasse, die ich bald barrierefrei befahren werde.
Mir ging es prächtig, ich aß Pizza, und selbst die Zeit danach im Bett genoss ich. Ich hörte Funkmusik und freute mich, wie viel schon möglich ist.
12. Juni 2023, 17 Uhr
Heute bekomme ich einen neuen Rollstuhl. In verschiedenen Ausführungen stehen lauter Exemplare im Lager. Leider passt mir keiner. „Dicker Arsch und lange Haxen“, scherze ich mit der Physiotherapeutin.
Aber ich bekomme trotzdem einen – zeitweise. Die Tage folgt ein größerer. Ganz genau geht es dann, wenn ich aus der Klinik zurück bin. Dann wird ein Spezialist meinen persönlichen Rollstuhl anfertigen. [...] Noch sitze ich in einem Pflege-Rollstuhl mit viel Polster, Kopfstütze und weichen Armlehnen. Hinten befinden sich Hebel, mit denen sich der Rollstuhl verstellen lässt. Das übernimmt immer ein Pfleger oder Angehöriger. [...]
Beim Aktiv-Rolli ist das anders: Die kreisrunde Anschiebestange ist ergonomisch geformt, sodass meine Hand nicht schmerzt. Die Arme lege ich nirgends ab, ich will ja vorwärts kommen oder mit den Händen etwas erledigen. [...] Wie der Begriff verrät, werde ich im Aktiv-Rolli zum Rollstuhlfahrer. Ein Rollstuhlfahrer, der Tag um Tag der Selbstständigkeit entgegenrollt.
13. Juni 2023, 14 Uhr
Es geht zur Untersuchung. Eine Dame sticht zwei Nadeln in meine Schädelhaut – es schmerzt – und weitere an die Beine, die ich ja nicht spüre. Ergebnis: Mein Rückenmark leitet wenig bis keine Information weiter. War zu erwarten.
Der Test wird sich in den kommenden Wochen und Monaten wiederholen. Noch befinde ich mich im sogenannten Spinalen Schock, während der Phase sind präzise Aussagen zu meinem verletzten Rückenmark schwer möglich. Erst müssen, unter anderem, alle Hämatome abheilen, die noch auf den Nervenstrang drücken. [...]
Die Frau nimmt zwei Fragebögen zur Hand, einen zu den Schmerzen, einen zu meiner psychischen Verfassung. Ich muss zig Einschätzungen abgeben. Wie sehr der Schmerz meine Stimmung beeinflusst. [...] Ob ich öfter weine? „Ja.“ [...] Ob ich „die Dinge“ noch genauso genießen kann wie früher? Ich denke an den Abend zuvor, als ich auf der Terrasse meine Augen schloss, mit Kopfhörern und Gitarren- und Schlagzeug-Sounds im Ohr. „Ja“, antworte ich.
Die Frau freut sich, ich sei schon sehr weit, sagt sie. Viele andere Patienten würden durch den Fragenkatalog in ein mentales Tief fallen, weil ihnen negative Gefühle erst bewusst würden. „Manche trauern ihrem alten Leben hinterher, müssen es erst sinnbildlich begraben.“ Ich hingegen würde die Akzeptanz meiner Schwerbehinderung fühlen, das merke man. [...]
14. Juni 2023, 20 Uhr
[...] Während der heutigen Physiotherapie-Stunde trainierte ich das Sitzen. Eigentlich absurd: einfach dasitzen, aufrecht auf einem Mattengestell, mit herabhängenden Beinen und mit den Füßen am Boden. Aber als Querschnittsgelähmter ohne Lehne, ohne Stützen an den Seiten und ohne Hände auf der Oberfläche baumle ich fast haltlos in alle Richtungen.
Ich strenge meinen Gleichgewichtssinn mehr an, als ich es je zuvor bewusst getan habe, nur um nicht zu kippen. Denn mein Körpergefühl läuft auf Höhe des Bauchnabels trichterförmig auf einen Punkt zu.
Versuche ich zu sitzen, fühlt es sich an, als würde ich auf einem Pflock balancieren, dessen angespitzte Seite Richtung Boden zeigt. Da ich ungefähr ab dem Bauchnabel abwärts gelähmt bin, kann ich einige Muskeln, die fürs Sitzen verantwortlich sind, nicht mehr ansteuern. Dafür stimuliere ich jetzt andere Muskeln, die mir in die aufrechte Position helfen.
Das Training macht Spaß, obwohl der Rücken mit jeder vergangenen Minute stärker schmerzt. Mit den Händen und Armen sowie dem Kopf gleiche ich das Gewicht aus, wenn ich zu einer Seite neige. Nach jedem Versuch klappt es besser. „Schau mal rüber“, sagt die Therapeutin.
Da stemmt sich wenige Meter hinter mir mein Zimmernachbar allein mit den Armen und mit Schwung im Rücken vom Boden auf die Matte. Meine Trainerin ermutigt mich: „Irgendwann kannst du das auch.“ Ich grinse.
18. Juni 2023, 9 Uhr
[...] Gestern wagte ich mich zum ersten Mal allein vor die Klinik ins Grüne. Ein Teerweg führt durch den Garten. Noch strengt es mich so an, im Rollstuhl vorwärts zu kommen, dass ich nach Strecken von wenigen dutzend Metern durchatme, bevor ich mich weiter schiebe. Ich fühle mich unsicher. Was, wenn ich den Hügel hinunter donnere und irgendwo aufpralle? Was, wenn ich umkippe?
Früher war mir kaum ein Ort zu entlegen. Als Kind hangelte ich mich Ast für Ast haushoch die Birke im Garten hinauf und ließ mich von der Aussicht überwältigen – der durchaus gefährliche Weg dorthin war mir egal. [...] Jetzt sind Wege für mich wahre Herausforderungen, die mich beängstigen. An einer Stelle im Klinikgarten gibt das Fußbrett am Rollstuhl plötzlich ein lautes, ekliges Kratzen von sich.
Ich stecke fest. Aus der Mulde in der Wegkurve zerre ich mich rückwärts wieder heraus. Also noch mal: Kratz! Ich will es nicht wahrhaben, ein weiterer Versuch – doch es gelingt mir einfach nicht. Ich versage an dieser Kurve. Die Enttäuschung spüre ich als Stechen in meiner Brust.
Später warte ich auf zwei Freunde. [...] Die strahlenden Gesichter helfen gegen die trübe Stimmung wie Tabletten gegen Kopfweh. Vier weitere stoßen noch hinzu, wir picknicken. [...] Die Gruppe bringt Normalität an die Klinik, wo sich Gespräche sonst vor allem ums Rückenmark drehen. Doch die Kurve taucht immer wieder vor meinem inneren Auge auf.
Im Bett danke ich dem Himmel, dass er mir Freunde geschenkt hat, die so tun, als wäre nichts, als wäre ich derselbe, der ich immer schon war. Sie vermitteln, dass sie das wirklich so wahrnehmen. Obwohl sich vieles geändert hat und ich mein Leben von nun an ganz anders mit ihnen teilen werde. Egal, wie das aussehen wird – siebenstündige Fahrt mit dem Handgas-Auto zum barrierefreien Ferienhaus, wo sie mich in den Swimmingpool rollen, Camping mit Extrazelt, damit der Rollstuhl trocken bleibt – ich freue mich darauf.
Und heute Morgen erkenne ich die verdammte Kurve vom Vortag als das, was sie ist: eine Aufgabe. Mein Unfall ist 19 Tage her. Wirklich im Rollstuhl trainiert habe ich noch nie. [...] Ich lerne erst, wie ich solche Kurven meistere. Eine Freundin baut mich auf: „Wie stolz wirst du sein, wenn du in ein paar Wochen mal wieder dort vorbeifährst und es schaffst?“ Ihr Gedanke gibt mir Mut.
21. Juni 2023, 20 Uhr
[...] Mittlerweile stemme ich mich im Bett nur mit den Armen in eine Sitzposition. Unterhose und Hose ziehe ich allein an, genauso wie ein Oberteil. Ohne fremde Hilfe, aber noch unter Aufsicht, führe ich mir einen Katheter ein und leere meine Blase – bis Anfang der Woche hing ein Urinbeutel am Unterschenkel. In den Rollstuhl schiebe ich mich dank eines Rutschbretts selbstständig. Über das Brett gleite ich auch wieder zurück. Diese Aufgaben erledigten bis vor Kurzem die Pflegekräfte. Auf die bin ich immer seltener angewiesen, je länger ich hier bin.
Das Wort „Selbstvertrauen“ erhält dadurch eine ganz neue Bedeutung. Vor zwei Wochen raubten mir ein paar Minuten außerhalb des Betts jede Kraft. Ich konnte mich nicht auf meinen Körper verlassen. Auf der Bettkante sitzend lehne ich mich nun auf meinen tauben Oberschenkel, weil ich weiß, dass die Füße fest am Boden stehen und mich tragen. Ich vertraue mir, ein beflügelndes Gefühl.
23. Juni 2023, 13 Uhr
Körperpflege und Würde gehören für mich zusammen. Ungewaschen bin ich vor meinem Unfall nie – mit wirklich nur wenigen Ausnahmen – unter Leute gegangen. [...] Mich unter laufendes, warmes Wasser zu begeben, löst Glücksgefühle in mir aus. Heute ist dieses Gefühl intensiver, als ich es mir je hätte vorstellen können. Denn erstmals benutze ich die Dusche in meinem Patientenzimmer.
In den zurückliegenden drei Wochen stellte eine Pflegekraft an jedem gewöhnlichen Morgen eine blaue Plastikschüssel voll Wasser neben mein Bett auf ein Blechwägelchen. Mit dem Wasser, etwas Duschgel und mithilfe von drei Waschlappen für Gesicht, Oberkörper und Genitalien rieb ich mich ein, bis eine dünne Seifenwasserschicht die Haut überzog. Frierend tupfte ich die feuchten Stellen mit einem Handtuch ab. Die Füße und den Rücken wusch mir eine Pflegekraft. [...]
Manchmal, alle vier Tage circa, rollte mich ein Klinikangestellter liegend vom Bett in eine Duschwanne aus Kunststoff. Die war an ein Rollengestell befestigt, damit mich die Schwestern oder Pfleger in einen gesonderten Sanitärraum am Gang schieben konnten. Dort duschten sie mich, fast ohne mein Zutun. Das war erfrischend, aber es gab mir ein passives Gefühl. Hilflos lag ich da und wartete, bis fremde Hände mich saubergemacht hatten.
Nach dem Frühstück heute ziehe ich mich aus und stemme mich gegen acht Uhr auf einen Dusch- und Toiletten-Rollstuhl. Der hat ein kreisrundes Loch unter dem Po und eine Aussparung nach vorne. Am Klo verrichtete ich unter Anweisung eines Pflegers das große Geschäft. Wir nutzen ein Zäpfchen, Gleitcreme – und einen Finger. Nach einer Dreiviertelstunde ist der Enddarm leer.
Danach rolle ich in das reguläre Bad. Ich atme durch, spüre die Vorfreude in mir hochsteigen. [...] Langsam drehe ich den Hahn auf und halte meine Hand unter den Strahl. 20 Minuten lasse ich mir Zeit, genieße das geliebte Gefühl von warmer Nässe an mir. Als ich aus der Dusche zurück in den Schlafbereich komme, kann ich gar nicht aufhören zu grinsen. Damit kehrt ein großes Stück Würde zurück.
23. Juni 2023, 22 Uhr
Der Tag war anstrengend, ich erhole mich im Bett. Zentimeter für Zentimeter streiche ich über meinen Oberschenkel: Weiche Härchen, seidige Haut, zarte Sehnen der verbliebenen, stark zurückgegangenen Muskulatur – mein Bein fühlt sich durch und durch sanft an. Automatisch gleiten die Finger über die warme Haut, die Berührung beruhigt mich. Ich drücke ins nachgiebige Gewebe am Po. An der Hüfte spüre ich den vorstehenden Beckenknochen, daneben ragt ein Muttermal hervor. Die Körperteile liegen regungslos auf der Matratze.
Wie das ist, die Stellen nicht mehr zu spüren, fragen meine Lieben immer wieder. Doch ich spüre die Stellen. Klar, von dort gelangen keine Informationen mehr ins Gehirn. Ich weiß aber: Das ist mein Körper. Fasse ich hin, fühle ich alles. Alles gehört zu mir. Ich lebe auch in diesen Körperregionen. Wie ich das Leben liebe, liebe ich meinen Körper, vom Zeh bis zum Haar.
Sitze ich im Rollstuhl, stabilisieren mich die lahmen Beine. Im Bett greife ich nach einer Wade, um sie über die andere zu legen. Fast von selbst wälzen mich meine Beine dann vom Rücken auf den Bauch, während sie sich beim Drehen auseinanderzwirbeln. Mein Körper hilft mir also, auch unterhalb des Querschnitts.
Zehn Stunden zuvor stemme ich mich zum ersten Mal ohne Hilfsmittel aus dem Bett. Ich stütze mich mit einer Hand am Rollstuhl und mit der anderen an der Matratze ab, drücke mich hoch und schiebe mich zur Sitzfläche. Doch ich sacke zu früh ab: Ein unaufmerksamer Moment – und ich plumpse unkontrolliert hinunter. Mein Hintern landet auf dem Schutzblech des Rollstuhlreifens, es kracht laut.
Genau in diesem Moment öffnet eine Pflegerin die Tür zum Patientenzimmer. „Ah!“, ruft sie, „das hätte wehgetan!“ Sie hat recht: hätte. Wäre ich nicht querschnittgelähmt, hätte ich wohl geschrien. Aber so verspüre ich weder Schmerz, noch muss ich aufschreien.
Stattdessen sickert schlechtes Gewissen in mein Bewusstsein: Kümmere ich mich zu wenig um meinen Körper? Bin ich zu leichtsinnig? Erst ersetzen solche Selbstvorwürfe den eigentlichen physischen Schmerz. Dann stelle ich fest, wie ich eine ganz neue Beziehung zu meinem Körper eingehe. Ich fühle emotional mit ihm, vergleichbar mit Mitgefühl gegenüber einem guten Freund. Das ist neu, und es gefällt mir. Am Abend prangt ein blauer Fleck auf meiner Pobacke. Ich taste darüber und verspreche: Das nächste Mal gehe ich behutsamer mit mir um.
25. Juni 2023, 23 Uhr
Vom gestrigen Abend bleibt mir ein Bild im Kopf: wie sich die Mundwinkel eines meiner besten Freunde zitternd nach unten ziehen, während sich in seinen großen, dunklen Augen Tränen sammeln. Der Moment, als er von meinem Unfall erfuhr, erscheint in seiner Erinnerung. [...] Eine weitere Freundin sitzt neben ihm auf der Bank und erkennt seinen Schmerz. Der Freund und ich schauen uns an. Leicht bläst der Wind warme Luft um unsere Nasen. Sie trocknet die Träne, die auch mir hinter den Gläsern meiner Sonnenbrille über die Wange rinnt.
3. Juli 2023, 8 Uhr
Zwar beginne ich einen neuen Lebensabschnitt, aber ich bleibe doch derselbe Mensch. Das bewies ich gestern, als ich entgegen jedem Rat meine Grenzen ausreizte: An einer Kreuzung wölbt sich der Gehweg senkrecht nach unten und endet. Eine mit Wasser gefüllte Mulde im Teer dahinter verdoppelt den Höhenunterschied auf ungefähr zwei Handbreiten.
Ich bin aus der Puste. Kurz zuvor hechelte ich den Hügel der Klinikausfahrt hoch. Nun drücke ich beide Hebel meiner Rollstuhlbremsen: Pause. Ein guter Freund kommt gerade am Bahnhof an. Der Bus von dort Richtung Klinik fährt erst in einer Stunde, daher will ich ihm entgegenkommen. Allein in den Ortskern zu fahren – mein Zimmernachbar hat mir vor wenigen Tagen erklärt, wie schlecht die Idee ist. Ich sei zu unerfahren. Eine spontane Spastik, also unkontrolliertes Muskelzucken, das meist bei Rückenmarksverletzungen auftritt, könnte die Füße vom Trittbrett jagen, meinte er. Doch das vergesse ich in dem Moment.
Etwa zehn Meter vor mir versperren weiß-rote Kunststoffstempen den eigentlichen Bürgersteig. Es sieht so aus, als müsste ich auf die vielbefahrene Straße ausweichen. Die Strecke bleibt hügelig. Das beängstigt mich. Ich stelle mir vor, wie ich auf dem schmalen Streifen zwischen vorbeischießenden Autos und Straßengraben umherirre, ungeschützt und allein. Dann erkenne ich: Zwischen den Absperrungen zieht sich ein provisorischer Fußgängerweg entlang. Also stoße ich mich mit Schwung von der Bordsteinkante ab und rolle durch die Pfütze. Mein Oberkörper kippt etwas nach vorne, aber ich halte mich gerade so. Geschafft.
Es folgen weitere Barrieren, bis ich den Ortskern erreiche. [...] Vor den nächsten Bordsteinkanten nehme ich wieder allen Mut und meine ganze Kraft zusammen. Bei einem besonders hohen Randstein lasse ich mir helfen. [...] Ich bezwinge einen über einen halben Kilometer langen Weg bergauf. [...] Kopf und Brust richte ich nach vorne, die Ellenbogen schnellen hinter und sofort wieder vor, um den Rollstuhlräder zu greifen, bevor ich zurückrolle. So tuckere ich minutenlang vor mich hin.
Endlich sehe ich meinen Freund. Das restliche Treffen schiebt er mich umher. Wir essen am Marktplatz und spazieren durch den Park. Er hebt mich sogar aus dem Rollstuhl und setzt mich auf die Wiese. [...] Wir liegen im Gras, und ich spüre ein Gefühl von Normalität, als würden wir ungeachtet meiner Schwerbehinderung entspannen und quatschen, wie schon unzählige Male zuvor.
Wie ich mich zuvor noch plagte, überhaupt aus der Klinik in den Ort zu kommen, verschwindet aus meinem Bewusstsein. Ich lebe im Jetzt.
4. Juli 2023, 23 Uhr
Zehn Meter vor dem Gemeinschaftsraum höre ich schon die Lacher, das Raunen mehrerer Stimmen, die gleichzeitig verschiedene Geschichten erzählen. [...] Gestern feierten wir eine Party, weil zwei Querschnittpatienten die Klinik verlassen. [...] Das Hauptgesprächsthema: Sex.
Wer Querschnitt hört, denkt oft, ein Betroffener kann nicht mehr gehen. Das ist zwar die eine große Einschränkung, doch nur eine von vielen. Die wenigsten lassen auf natürlichem Weg Wasser oder gehen groß auf die Toilette, wie sie es vor ihrem Unfall taten. Hierbei spricht das Klinikpersonal vom „Blase-Darm-Management“ – ein Riesenthema. Und alle, die zwischen Bauchnabel und Zehenkuppen weder Nadelstiche, Eiswürfel noch Hitze wahrnehmen, spüren auch im Intimbereich genau: nichts.
Glücklicherweise ist der Penis kein Muskel, sondern ein Schwellkörper, also funktioniert er trotz Rückenmarksverletzung. Der Körper pumpt weiter Blut hinein und lässt den Druck wieder sinken. Grundsätzlich zumindest. Auf was meiner anspringt, habe ich noch nicht verstanden. Unabhängig von dem, was ich sehe, oder davon, ob ich ihn berühre, regt er sich. [...] Und auch ohne eine natürliche Erektion bringen entsprechende Medikamente einen Penis zum Stehen. Daher könnte Sex klappen, wenn der Gegenpart tatkräftig mithilft.
Bis zu dem Punkt hätte ich wenig vom Spaß, denn ich würde nichts spüren. Aber Sexualität bedeutet ja mehr als ein Rein-und-raus, auch für Menschen mit intaktem Körper. Wegen meiner Behinderung tritt das Drumrum nun in meinen Fokus. In Onlineartikeln liest man von Körperzonen, die Gelähmte neu als erogen und stimulierbar entdecken, zum Beispiel Brustwarzen. Genau da erkenne ich Potenzial. [...]
Bei den Gesprächen am gestrigen Abend blödeln wir. Ein Orgasmus prickelt ja durch den ganzen Körper. [...] Vielleicht sollten wir testen, ob mit viel Sex auch wieder Funktionen in unseren gelähmten Körperteilen zurückkehrt, schlägt eine Mitpatientin vor.
An diesem Tisch leiden alle an den Folgen ihrer Rückenmarksverletzung. [...] Hier fällt keiner auf, so gut wie jeder verabschiedet sich immer wieder für 20 Minuten, um per Katheter die Blase zu leeren. Ich genieße diese Gesellschaft. Früh genug werde ich in meinem Alltag der eine Behinderte sein.
8. Juli 2023, 8.30 Uhr
Nervenschmerzen sind vor allem eines: diffus. Ich vergleiche sie mit dem Gefühl, wenn ein Körperteil einschläft, nur hundertmal stärker. Und ohne das Kribbeln wegschütteln zu können. [...]
Nervenschmerz ist typisch bei Rückenmarksverletzungen. [...] Zum einen freue ich mich über ihn. Dank ihm spüre ich meinen Körper auch Bauchnabel abwärts. Außerdem kommt er mir bei etwas anderem zugute.
Denn das Ende meiner Zeit in Murnau naht, viel früher, als ich zunächst angenommen hatte. Grund sind meine ungewöhnlich schnellen Fortschritte: Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen regle ich völlig unabhängig von der Pflege meinen Klinikalltag. [...] Vorgestern stand ein Stationsarzt im Zimmer und erklärte, kommende Woche könnte der Sozialdienst den Reha-Antrag stellen. Dass ich nun neue Medikamente nehme, verzögere den Zeitpunkt aber. Und die brauche ich wegen meiner Nervenschmerzen. [...]
Ohne sie hätte vielleicht schon diese Woche ein Aufnahmeformular das Querschnittzentrum in Bad Wildbad erreicht, meiner nächsten Station Richtung selbstständiges Leben. [...] Je später ich dort trainiere, übe, lerne, desto besser. Denn damit verlängert sich meine Behandlungszeit insgesamt – und umso fitter werde ich für den Alltag daheim.