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Kurzgeschichte: Die Kraft der Musik

Eine Kurzgeschichte


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Das Geräusch meiner Schuhe auf dem Boden hallt in meinen Ohren. Ich umklammere meine Clutch und fasse mit der linken Hand unauffällig zu meiner Hosentasche. Mein Herzschlag beruhigt sich, als ich das Papier ertaste. Ich setze mich in die dritte Reihe neben eine Dame, die mir zulächelt, sich dann eine Brille aufsetzt und das Programm liest. Ihre wachen Augen, die helle Haut und hohen Wangenknochen lassen sie jung aussehen. Höchstens vierzig? Ok, wahrscheinlich ist sie fünfzig. Schätzen kann ich nicht. Realistisch schätzen schon gar nicht.

Ich wende den Blick ab. Die Herzlichkeit, die sie ausstrahlt, obwohl ich sie nicht kenne und sie mir lediglich zugelächelt hat, wärmt mein Herz. Ich schaue aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber. Sie studiert immer noch das Programm, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen. Das Rouge, dessen Farbe mit ihrem roten Kleid und den Pumps harmoniert, glitzert auf ihren Wangen im Schein der Deckenlampen. Sie ist schön. Und sie scheint glücklich zu sein.

Magdalena (20) kommt aus Rattenberg im Landkreis Straubing-Bogen.

Magdalena (20) kommt aus Rattenberg im Landkreis Straubing-Bogen.

Plötzlich spüre ich einen Blick auf mir. Eine seltsam angenehme Empfindung ergreift Besitz von mir und einen Moment bin ich verwirrt. Bis ich aufschaue und in meerblaue Augen blicke. Als ich ihn erkenne, setzt sich das Gefühl in meiner Magengegend fest und kitzelt mich wie eine Feder auf der Haut. Mir wird warm. Keine Ahnung, ob das an dem Gefühl oder seinen Augen liegt. Vielleicht liegt es auch an beidem. Ich fange an, zu lächeln, woraufhin seine Augen zu strahlen beginnen. Sie erinnern mich an Sterne in der Nacht.

Ein Blick, in dem so vieles, aber auch nichts steht

Erst nachdem der Dirigent den Abend eröffnet hat und den Musikern hektisch ein paar Worte zuflüstert, unterbrechen wir unseren Blickkontakt. Nun wendet sich der Orchesterleiter an ihn. Das Strahlen in seinen Augen erlischt, stattdessen legt sich ein Ausdruck der Konzentration auf sein Gesicht. Er nickt seinem Chef ein paar Mal zu, dann lehnt er sich zurück. Sobald der Applaus der Zuschauer in der Kuppel des Konzertsaals verklungen ist, spielt die Frau mit der Geige die ersten Töne.

Langsam taste ich mit der linken Hand zu meiner Hosentasche und hole das zusammengefaltete Papier heraus und streiche es auf meinem Oberschenkel vorsichtig glatt. Die Dame wirft mir einen Seitenblick zu und lächelt, als sie erkennt, dass es die gleichen Noten sind, die die Violinistin spielt. Wieder umhüllt mich ihr Lächeln wie eine weiche Decke, die einen wärmt. Nur noch zwei Takte. Ich schaue auf und er wirft mir einen Blick zu, in dem so vieles, aber auch nichts steht.

Einen Herzschlag später wendet er sich dem Dirigenten zu. Seine Finger ruhen auf den Tasten und in Gedanken scheint er bereits die Griffe mit der linken Hand durchzugehen, weil er die Stirn in Falten legt. Ich platziere meine Hände links und rechts neben den Noten und stelle mir vor, ich würde sein Instrument in den Händen halten. Ganz ruhig verharre ich in meiner Position, als er den ersten Ton anspielt. Zuerst "g", dann nach vorne rutschen, das "fis" ertasten. Seine Töne sind klar und schön und ich merke, dass ich wieder angefangen habe, zu lächeln.

Er spielt die nächsten Takte ohne Fehler und mein Herz macht Freudensprünge. Riesengroße Freudensprünge. Jetzt muss er übersetzen. Mit der rechten Hand mache ich genau dieselbe Bewegung, die er vollführen muss. Schön langsam. Den Mittelfinger vor den Daumen. Er übersetzt souverän - mit einem Lächeln auf den Lippen, von dem ich weiß, dass es mir gilt. Untersetzen. Den Daumen auf die Taste nach dem Mittelfinger. Wunderbar.

Es gibt Dinge, die nur einem Menschen gehören

Der Dirigent nickt ihm anerkennend zu, dann bekommt ein Mann mit Trompete den Einsatz. Er nimmt unterdessen seine Hände von den Tasten und die linke Hand aus dem Riemen. Dann sucht er meinen Blick. In seinen Augen blitzt Stolz auf und Freude darüber, endlich wieder zu spielen. Ich weiß, wie sehr ihm gerade das Herz aufgeht, weil er vor so vielen Leuten spielen darf. Ich bin mir sicher, dass ich der Grund bin, weswegen er wieder mit dem Musizieren angefangen hat. Ich habe mir gewünscht, dass er es wieder tut. Aber ich kenne nicht den Grund dafür, weswegen er vor zehn Jahren mit dem Akkordeonspielen aufgehört hat und erst seit einem Monat wieder übt. Er ist gut gewesen. Die Zeitung hat über ihn und sein Talent berichtet und bei Musikwettbewerben hat er immer den ersten Platz belegt.

Ich habe nur ein einziges Mal nach dem Auslöser gefragt, warum er so lange kein Akkordeon mehr angerührt hat, habe aber nie eine Antwort bekommen. Und das akzeptiere ich. Es gibt Dinge, die nur einem Menschen gehören. Dinge, die nicht für andere Menschen bestimmt sind. Er soll selbst darüber entscheiden, wann und ob er diese Dinge mit anderen Menschen teilt. Und wenn er mir eines Tages eine Antwort auf meine Frage gibt, dann werde ich ihm zuhören. So lange, bis er alles gesagt hat, was er mit mir teilen möchte. All die Dinge, die er mir erzählt, werde ich in meinem Herzen tragen und zu den Dingen machen, die von nun an zwei Menschen gehören.

Er ist immer noch der kleine Junge, den sie aus der Zeitung kennen

In diesem Moment gibt der Dirigent den Einsatz für alle Musiker. Den Konzertsaal erfüllt eine wunderbare Melodie, die mich so tief entspannen lässt, dass ich mit den Noten in der Hand in die Lehne des Stuhls zurücksinke. Mein Blick gleitet zu ihm und erst jetzt merke ich, dass er mich die ganze Zeit über angesehen hat. Er spielt, als hätte es die zehn Jahre nie gegeben. Untersetzen. Übersetzen. Eine Oktave höher. Wow. Ich schaue auf das Notenblatt, dann sofort wieder auf seine Finger. Die Terz, dann den Bass wechseln. Er ist immer noch der kleine Junge, den die Leute aus der Zeitung kennen. Sein Talent ist geblieben.

Die Melodie findet den Weg in mein Innerstes und klingt selbst dann noch in mir nach, als das Konzert zu Ende ist und wir zusammen auf der Bank vor dem Saal sitzen. Bis jetzt haben wir kein Wort gewechselt, denn Worte können nicht beschreiben, was das Konzert mit uns gemacht hat.

Ein Zettel der alles verändert

"Ich habe Papas Lieblingslied gespielt", beginnt er auf einmal und reibt die Handflächen aneinander. Er blickt stur geradeaus. Ich wende mich ihm zu. "Er hat sich gefreut, dass ich es auf dem Akkordeon übe. Aber irgendwann hat er geflucht, wenn ich es gespielt habe. Er hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen und mich angeschrien, dass ich zusammengezuckt bin. Es sind nur acht Worte gewesen: ‚Hör auf, dieses Lied zu spielen. Hör auf!', hat er gebrüllt. Ich habe es nie verstanden und Angst gehabt, dass er mich wieder anschreit, wenn ich spiele. Also habe ich das Akkordeon unter meinem Bett versteckt und es nie wieder angerührt. Als ich nach seiner Beerdigung die Sachen ausgemistet habe, habe ich ein kleines Büchlein von meinem Vater gefunden", erklärt er und hält mir einen Zettel aus Karopapier hin.

Ich schlucke und sehe ihn an, überfordert mit dem, was er mir gerade erzählt hat. "Hier, lies", fordert er mich auf. Mit zitternden Händen falte ich das Papier auf und entziffere die winzige Handschrift. "Er spielt immer das verdammte Lied! Das Lied, das eigentlich mein Lieblingslied ist, welches aber aus den Boxen in der Küche gedrungen ist, als mir mitgeteilt worden ist, dass meine Frau - seine Mutter - einen tödlichen Autounfall gehabt hat. Ich will nicht, dass er es spielt. Es erinnert mich daran, wie sich das Blau der Polizeiuniformen in meine Augen gebrannt hat und ich das Atmen verlernt habe", lese ich vor. Oh Gott.

Ich kann nichts sagen, weil mir irgendetwas die Kehle zuschnürt. Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Dann hole ich tief Luft und ziehe das Papier mit den Noten aus meiner Hosentasche. Ich senke den Blick auf meine Finger und beginne, das Papier mit den Noten um das Karopapier seines Vaters zu wickeln.

"Manchmal müssen wir erst etwas Hässliches erleben, damit daraus etwas Schönes entstehen kann", sage ich leise und hebe meinen Kopf. Er lächelt. Dieses Lächeln wirft mir eine Hülle von Geborgenheit über. Er verschränkt seine Finger mit meinen, die beiden Papiere zwischen unseren Händen.