Freilich

"Kiwi kannte ich nur aus dem Fernsehen"


Mario (großer Junge in der Mitte) im Jahr 1987 bei einer Aufführung für ABC-Schützen seiner Schule. Er trägt die typische Kleidung der Thälmannpioniere.

Mario (großer Junge in der Mitte) im Jahr 1987 bei einer Aufführung für ABC-Schützen seiner Schule. Er trägt die typische Kleidung der Thälmannpioniere.

Eine graue Betonwand, die sich kilometerweit hinzieht und ein Land und dessen Bewohner voneinander trennt. Die Rede ist von der Berliner Mauer. Am Montag ist der 21. Tag der Deutschen Einheit. An diesem Datum feiert Deutschland die Wiedervereinigung seiner zwei Staaten: die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Doch wie war es eigentlich, in einem Land zu leben, das 28 Jahre lang durch Beton und Ideologie getrennt war? Sabine Weinzierl (34) und Mario Horlbeck (35) aus Straubing erzählten Freistunde, was es bedeutete, als Jugendlicher in einem zerrissenen Land aufzuwachsen.

"Die Mauer selbst habe ich höchstens mal von Weitem gesehen", sagt Mario. 15 Kilometer vorher fingen DDR-Grenzsoldaten jeden ab und fragten nach der Einreiseerlaubnis. Zäune und Minenstreifen verhinderten ein Herantreten an die Mauer. "Ich wohnte im ostdeutschen Vogtland, circa 40 Kilometer von der Grenze weg", erzählt er. Ein Erlebnis, das die gnadenlose Trennung deutlich machte, ist für ihn ein Besuch in dem Dorf Mödlareuth. "Die Mauer mit ihren Wachanlagen und Türmen verlief mitten durch das Dorf und trennte es in das damals westdeutsche Bayern und ostdeutsche Thüringen."

Die DDR-Regierung verhinderte mit dem Mauerbau die Flucht der Menschen in den Westen. Danach wurde die ostdeutsche Ideologie noch gnadenloser durchgesetzt als vorher. Einer der Wirkungsbereiche, in denen das am deutlichsten wurde, waren Bildungseinrichtungen. Die Schule war streng organisiert. Mario erzählt, dass es regelmäßig Apelle gab, bei denen sich jede Klasse aufstellen und dem Lehrer Bericht erstatten musste. "Der Lehrer sagte "Seid bereit!", wir Schüler mussten antworten "Immer bereit!" und den Pioniergruß ausüben. Das war wie Salutieren bei Soldaten." Bei dieser Gelegenheit wurden auch Schüler, die etwas angestellt hatten, vor der ganzen Schule getadelt. Die Eltern hatten bei solchen Bestrafungen ihrer Kinder nichts mitzureden.

Für Jugendliche allgegenwärtig waren auch sozialistische Organisationen. Dazu gehörten die Jungpioniere, die Thälmannpioniere und die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Jede dieser Organisationen hatte ihre eigene Kleidung. Mädchen und Jungen trugen Pionierblusen und -halstücher. "Es gab zwar keine Schuluniform", sagt Mario, "aber an Feiertagen und zu Apellen mussten wir diese Kleidung tragen."

Auch nachmittags kam bei ostdeutschen Jugendlichen keine Langeweile auf. Schule und Staat sponserten Arbeitsgemeinschaften und Pionierlager. "Die dienten als Einstieg ins Arbeitsleben und Freizeitbeschäftigung, ähnlich einem Ferienlager. Dort traf man auch Schüler aus anderen sozialistischen Ländern wie Bulgarien oder Ungarn." Die Teilnahme an solchen Freizeitmöglichkeiten war offiziell freiwillig. Wenn ein Schüler aber nicht teilnahm, wurde er darauf angesprochen und hatte es bei Lehrern mehr als schwer. Das ging bis zu schlechten Noten und Mobbing. Abitur war nur erlaubt, wenn man sich engagierte. Kirche war dabei ein No-Go. Der Sozialismus verneinte die Existenz eines Gottes. Wenn jemand nicht aus der Kirche austreten wollte, war es mit seiner Karriere vorbei.

Sabine, die zu Zeiten der Mauer in Oberschneiding lebte, kannte das alles nicht. "Von der Ostseite der Mauer ist nichts über die Lebensverhältnisse rübergedrungen, von dem ich als westdeutsche 14-Jährige erfahren hätte. Bei den Erwachsenen mag das anders gewesen sein, aber wir Jugendlichen haben den Großtteil erst erfahren, als die Mauer schon gefallen war."

Mario und Sabine erwähnen beide die Pakete, die über die Mauer geschickt wurden. Sabines Mutter hielt Briefkontakt mit einer ostdeutschen Frau, die Sabine in einem Paket einen DDR-Sandmann schickte. Marios Familie erhielt von westdeutschen Verwandten Pakete mit Lebensmitteln und Produkten, die in Ostdeutschland nicht erhältlich waren. "Einen westlichen Kugelschreiber nahm mir der Lehrer sofort weg." Er betont aber: "Wir haben nicht gehungert. Die Grundnahrungsmittel waren vorhanden, nur keine verschiedenen Sorten. Es gab Äpfel und Birnen, mit viel Glück mal eine Banane. Aber andere Südfrüchte wie Ananas und Kiwi kannte ich damals nur aus dem Fernsehen."

Mit Jeans zu westdeutsch

Die DDR-Regierung achtete streng darauf, westdeutsche Elemente zu tilgen. Stasileute nahmen zum Beispiel Fernsehantennen ab, die nach Westen zeigten. Lehrer beobachteten ihrer Schüler und reichten alles an die Stasi weiter. Wie weit diese Beeinflussung ging, zeigt Mario auf: "Die Berliner Stasi sprach meinen Schwager darauf an, dass ich mich angeblich zu westdeutsch benehmen und mit Jeans zu westlich kleiden würde. Aber wie wollten die denn das von Berlin aus erkennen?"

Der ostdeutsche Staat versuchte, seine Bewohner zu beeinflussen, indem er ihnen die Mauer als Schutzwall gegen den Westen verkaufte. Die Schule schürte bei den Jugendlichen das Feindbild des Westens. Im Fach Staatsbürgerkunde lernten die Schüler, dass der Westen wie ein verwundetes Tier sei, das um sich schlage, aber nicht mehr lange zu leben habe. Über die Mauer drang aber trotzdem herüber, dass das Leben im Westen besser sei. Die Bürger der DDR wünschten sich eine Veränderung. Diese zog sich schleichend über mehrere Jahre hinweg und gipfelte dann im Mauerfall in der Nacht von Donnerstag, dem 9. November 1989. Sabine erinnert sich noch genau an die Fernsehberichte mit weinenden Menschen, die chaotisch in den Westen strömten. "Das war ein sehr euphorisches, emotionales Erlebnis." Mario nahm noch im Oktober mit seiner Mutter an einer Demonstration teil, bei der Stasileute in Zivil versuchten, Spruchbänder zu zerstören. Ende November reiste er dann zum ersten Mal in seinem Leben in den Westen. "Der Zug war so überfüllt, dass die Passkontrolleure gar nicht reinkamen", weiß er noch. Nach Straubing umgezogen ist er aber erst 2004.

Obwohl die DDR als Staatssystem zum Scheitern verurteilt war, gab es auch positive Aspekte. Die Berufswahl war zwar eingeschränkt, aber Arbeitslose gab es kaum. Wenn man Mario fragt, ob er an den alten Zeiten etwas Positives findet, lacht er: "Für mich war es immer schlimm, dass es kein Stileis gab. Aber genau die Tatsache, dass eben nicht alles im Überfluss vorhanden war, lehrte uns, bescheiden zu sein. Und die Kinderbetreuung war besser, das denke ich mir jetzt bei meinem eigenen Sohn oft. In dieses System zurückwollen würde ich aber nie wieder. "