Deutschland
Missbrauchsaufarbeitung: Opferinitiative "desillusioniert"
17. Juli 2021, 8:12 Uhr aktualisiert am 5. April 2023, 19:03 Uhr
Vor mehr als einem Jahr vereinbarten die katholischen Bistümer in Deutschland, unabhängige Kommissionen zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen einzurichten. Nachdem die Bischofskonferenz nun einen Zwischenstand präsentiert hat, verlieren Betroffene die Geduld.
Die Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" hat die Geduld mit der katholischen Kirche verloren und fordert staatliche Eingriffe bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. "Es ist ein Skandal, dass es bis heute weder eine Beratungs- und Anlaufstelle für die Opfer der Kirche gibt noch eine Finanzierungslösung für die Selbsthilfe- und Selbstorganisationsversuche, mit denen Betroffene seit 2010 sich versuchen Gehör zu schaffen", sagte der Sprecher der Initiative, Matthias Katsch, der Deutschen Presse-Agentur.
"Wir sind enttäuscht und desillusioniert über die Geschwindigkeit, mit der Aufarbeitungsprojekte in der katholischen Kirche auf den Weg gebracht werden", betonte er. Und: "Der Staat weigert sich, Verantwortung für die Aufarbeitung zu übernehmen für Verbrechen, die unter seinen Augen geschahen, und die nach staatlichen Regeln oftmals verjährt sind."
Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hatte am Freitag mitgeteilt, dass es mehr als ein Jahr nach einer entsprechenden Vereinbarung mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung "in den meisten Diözesen" eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen gibt - aber längst noch nicht in allen. In 13 ist die Einrichtung der Kommissionen demnach "weitestgehend oder gänzlich abgeschlossen". Es gibt 27 katholische Bistümer in Deutschland.
Kritik an der Aufarbeitungsstruktur
Einzelne Bistümer hätten Sonderwege mit Rörig vereinbart, teilte die DBK mit. Bislang sei nur in zehn Diözesen ein Betroffenenbeirat eingerichtet worden oder stehe kurz vor der Einrichtung. Fünf Bistümer wollen auf "alternative Formen der Betroffenenbeteiligung" setzen. "Im Aufbau" lautet der Status in vielen anderen Bistümern - oder "diözesane Kommission weitgehend besetzt". Einige Bistümer im Norden und Osten haben sogar gemeinsame Kommissionen vereinbart.
"Die Bischöfe wollten von Anfang an verhindern, dass es eine starke verbindliche Struktur für die Aufarbeitung auf gesamtdeutscher Ebene gibt. In dem Dickicht der vielen Einzelprojekte droht jetzt der Überblick verloren zu gehen", sagte Katsch.
Vor rund einem Jahr hatte der Ständige Rat der DBK sich mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, auf eine "Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland" geeinigt und beschlossen, unabhängige Aufarbeitungskommissionen in allen Bistümern einzusetzen. Rörig sprach damals von einer "historischen Entscheidung".
Mittermeier: Kommissionen reichen nicht aus
"Die "Gemeinsame Erklärung" allein reicht jedenfalls nicht aus, wie sich jetzt nach über einem Jahr gezeigt hat", betonte Katsch, der für die SPD in den Bundestag einziehen will, dagegen nun. "Wir sind jetzt elf Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals und drei Jahre nach der Vorstellung der wegweisenden MHG Studie und immer noch werkeln die Bistümer vor sich hin, sind Kommissionen im Aufbau. Es ist kein Wunder, dass nur wenige Betroffene überhaupt bereit sind unter diesen Bedingungen die Aufarbeitungsprojekte aktiv zu begleiten."
Aus Sicht von Rosi Mittermeier, Gründungsmitglied der Initiative Sauerteig aus Garching an der Alz in Oberbayern, reichen die Kommissionen auf Bistumsebene ohnehin nicht aus. "Die eigentliche Arbeit muss doch vor Ort passieren - bei den Menschen und ihren Sorgen."
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx wird am Samstag in Garching erwartet. Dort will er mit der Initiative und anderen Gemeindemitgliedern über den 2010 bekannt gewordenen Fall des ehemaligen Gemeindepfarrers sprechen, der rund 20 Jahre lang dort eingesetzt war, obwohl er vorher wegen sexuellen Kindesmissbrauchs in einer anderen Pfarrgemeinde rechtskräftig verurteilt worden war. Nach seiner Versetzung nach Garching soll er dort weitere Kinder missbraucht haben.
"Es ist gut, dass er sich den Menschen in der Gemeinde stellt", sagte Katsch. "Eigentlich ist so ein Besuch überfällig. Wir wissen, dass das Versetzen von Missbrauchspriestern in andere Gemeinden Alltag war. Dennoch tun sich Bischöfe schwer, in die betroffenen Gemeinden zu gehen, die oft erst aus der Zeitung davon erfuhren, dass jahrelang ein Täter bei Ihnen die Sakramente gespendet hat."