Tödlicher Unfall bei Mitterfels

Wie Familien nach dem tödlichen Unfall bei Mitterfels mit der Trauer leben

Mit diesem Artikel hat die Redakteurin Simona Cukerman den dritten Platz des Eberhard-Woll-Preises erreicht. Wir nehmen diese Auszeichnung zum Anlass, den Text nun kostenlos in voller Länge anzubieten.


Das letzte gemeinsame Foto der vier Freunde auf dem Kötztinger Pfingstfest.

Das letzte gemeinsame Foto der vier Freunde auf dem Kötztinger Pfingstfest.

Während der Heimfahrt vom Kötztinger Pfingstfest prallt in der Nacht vom 3. Juni bei Mitterfels (Kreis Straubing-Bogen) ein Audi mit Anhänger frontal mit einem Auto zusammen, in dem vier Jugendliche sitzen. Dominik und Julia werden schwer verletzt. Denis und Annalena sterben.

Drei Monate nach dem Unfall, nach Denis' und Annalenas Tod, sind die Familien bereit, über den Tag des Unfalls und die Zeit danach zu sprechen. Getroffen haben wir uns am Esszimmertisch der Familie Bugl: Annalenas Eltern Melanie und Christian, Zwillingsschwester Julia, die noch immer im Rollstuhl sitzt. Auch Denis' Mutter Uta Hofmann-Lohmer, Schwester Vanessa und Stiefvater Tom sind gekommen. Dominik verpasst den Termin, kommt eine Woche später auf Krücken in die Redaktion.

Ihre Geschichte ist nicht nur die eines tragischen Unglücks. Es ist eine Geschichte über den Versuch zu trauern - zwischen Gerüchten und der Neugier Fremder. Über quälende Fragen, über Erinnerungen - aber auch über große Anteilnahme aus der Region. "Selbst nach zwei Monaten erinnert alles an diese eine Nacht", sagt Melanie Bugl. Die Familien wissen seit dem Unfall nicht, wie es für sie weitergehen soll. "Alles steht still."

Die Zimmer der Verstorbenen sind seit Monaten unberührt. Etwas wegräumen? Für Uta unvorstellbar. Sie sucht in Denis' Zimmer Trost. Sein Duft liegt noch in der Luft. Seine Jacke hängt an der Tür. Sein Rucksack in der Ecke. Manchmal legt sie sich in Denis' Bett. "Sein Zimmer ist meine Kraftquelle, wenn es mir richtig schlecht geht."

Auch bei Familie Bugl steht alles noch an gleicher Stelle, wie an dem Tag, als Annalena - von ihren Eltern Leni genannt - und Julia das Haus verlassen haben. Annalenas Schuhe auf der Treppe, ihre Jacke in der Garderobe. "Da wird auch nichts geändert", sagt ihr Vater.

Die Familien sind mittlerweile unzählige Male an der Unglücksstelle gewesen, in der Hoffnung nachvollziehen zu können, wie genau der Unfall geschehen konnte. Wieso mussten ihre Kinder ausgerechnet hier entlangfahren? Genau zu dieser Zeit? Wieso sie?

Heute erinnern zwei Kreuze, die nahe des Unglücksorts neben einer Birke stehen, an Denis und Annalena. Denis' Arbeitskollegen bei der Firma Sennebogen haben die Kreuze aufgestellt. Für beide, sagt Uta.

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Am Abend des Freitags, 2. Juni, besuchen die Zwillingsschwestern Annalena und Julia (16), Dominik (18) und Denis (17) das Kötztinger Pfingstfest. Essen, Bierzelt, Autoscooter. Sie schlendern über den Festplatz; es ist nicht viel los und recht kalt für die Jahreszeit, erinnert sich Dominik. Deswegen wollen sie spätabends noch weiter in die Disco "Café Zinnober". Dafür hätten sie allerdings zwei Aufsichtspersonen gebraucht - die kurzfristig abgesprungen sind.

"Wir sind früher als geplant nach Hause gefahren", erzählt Julia. Dominik, der Fahrer, schaltet gegen Mitternacht sein Navi ein, um sich nachts nicht zu verfahren. Denis meint noch, dass sie doch auch anders fahren könnten. "Aber wir haben uns für den Navi-Weg entschieden", sagt Julia. Den Weg, der rund eine halbe Stunde später zwei Leben kosten wird.

Julia sitzt mit ihrem Freund Denis auf der Rückbank; er rechts, sie in der Mitte. Annalena ist Beifahrerin, Dominik am Steuer. Julia lehnt sich müde an Denis.

Er legt eine Decke über sie, weil sie friert; nimmt sie in den Arm. Julia schläft ein. Sie schläft, während Dominik durch Mitterfels fährt, dann die abfallende Straße entlang. Auf beiden Seiten der Straße scheinbar endlose dunkle Felder. Fast Vollmond. Ob sie die Scheinwerfer des entgegenkommenden Autos gesehen haben, mit dem sie wenig später zusammengestoßen sind?

Der Zusammenprall reißt Julia aus ihrem Schlaf. Sie sieht Dominik bewusstlos am Lenkrad, unter ihm der Airbag. Sein Sitz muss durch die Wucht des Zusammenstoßes nach vorne gerutscht sein. Er kommt langsam zu sich. "Ich wollte den Sitz zurückschieben", erinnert er sich, "und bin vor Schmerzen weggetreten." Kniescheiben, Becken und die ersten drei Wirbel sind gebrochen.

Julia ist als einzige wirklich bei Bewusstsein. Denis, neben ihr, muss ihr gesagt haben, er habe große Schmerzen, muss ihre Hand gedrückt haben. Daran erinnert sie sich - doch ob sie der Erinnerung glauben kann? "Man sagt, dass er sich das Genick gebrochen haben soll", sagt Julia. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Julia gurtet sich ab, um Denis zu helfen. Sie will aufstehen, stürzt sofort. Arm, beide Oberschenkel und Hüfte sind gebrochen. Ihre Zwillingsschwester sieht sie nicht mehr. Annalena muss wegen des Aufpralls vom Beifahrersitz in den Fußraum gerutscht sein.

Für Julia fühlen sich, dort in der Dunkelheit, Minuten wie Stunden an. Aus den Motorhauben steigt Rauch. "Ich hatte Angst, dass keiner zur Hilfe kommt."

Zwei zufällig vorbeifahrende Autos bleiben stehen. Sie setzen den Notruf ab, leisten Erste Hilfe. Sie versuchen gemeinsam, die Jugendlichen aus dem Auto zu ziehen. Sehen Dominik atmen, aber die Fahrertür geht nicht auf; das Gestell ist verzogen. Er ist gefangen, bis Rettungskräfte das Auto aufschneiden. "Denis haben wohl Nachtfischer aus dem Auto gezogen", erzählt seine Mutter Uta - eine der vielen Unklarheiten aus dieser Nacht. Sie kenne nicht einmal die Todesursache von Denis. Offizielle Informationen dazu wird es auch nie geben: Eine Obduktion hat die Staatsanwaltschaft nicht veranlasst, wie die Polizei auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt.

"Der eine sagt Genickbruch, der andere innere Verletzungen. Das macht mich völlig fertig", sagt Uta. Was klar ist: Denis ist kurz nach dem Zusammenprall gestorben.

3 Uhr, knapp zwei Stunden nach dem Unfall, klingelt es nahezu zeitgleich an drei Haustüren. Denis' Stiefvater Tom Hofmann, aus dem Schlaf gerissen, sieht Polizei und Seelsorger. "Da fühlt man es; da weiß man, dass etwas Furchtbares geschehen ist." Er versteht die Welt nicht mehr, muss sich orientieren; versucht seine Frau am Handy zu erreichen. Denis' Mutter Uta und Schwester Vanessa sind im Urlaub. "Horror", erinnert sich Uta. Ihr Kind ist tot und sie sitzt in Griechenland fest. Schnell organisieren sie einen Rückflug.

Dennoch dauert es, bis sie ihren Sohn sehen darf. Weil der Unfall Freitagnacht geschah, habe die Staatsanwaltschaft erst am Montag geprüft, ob Denis obduziert werden muss, erklärt die Polizei auf Anfrage. "Im Anschluss daran sind am gleichen Tag die Angehörigen informiert worden", teilt die Polizei mit. Quälende Tage für Uta Hofmann-Lohmer: "Mein Kind ist gestorben und ich konnte ihn tagelang nicht sehen", sagt sie und zuppelt an ihrem Taschentuch.

Denis hatte noch viel vor. Er hat eine Ausbildung zum Feinwerkmechaniker bei Sennebogen gemacht, wollte einen Meister und dann einen Ausbilderschein machen; mit 25 heiraten, Kinder, ein Haus bauen. "Jetzt", sagt Uta, "ist die Zukunft plötzlich weg. Die unserer Kinder und damit auch unsere."

Auch an der Haustür der Familie Bugl stehen um 3 Uhr nachts Polizei und Seelsorger. Sie sagen Melanie und Christian, dass einer der Buben gestorben sei und dass sie bei ihrer Tochter Annalena von Hirntod ausgehen. Ein Straubinger Arzt sagt ihnen wenig später am Telefon: Wir geben unser Möglichstes. Dann wird Leni in den OP-Saal gebracht.

Zeitgleich kommt Julia schwerverletzt im Regensburger Uniklinikum an. Die Familie ist hin- und hergerissen. Wo sollen sie hin? "Die Ärzte wollten uns beruhigen, doch wir waren nicht mehr zu beruhigen", sagt Melanie. In dieser Nacht fahren die Eltern fünfmal zwischen Straubing und Regensburg hin und her - ständig vom Gefühl getrieben, etwas zu verpassen.

"Dann rufen die Straubinger Ärzte an", erinnert sich Melanie. Das wird nichts mehr, hätten sie gesagt. Die Eltern fahren ein letztes Mal von Regensburg nach Straubing, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden. Melanie wischt sich die Tränen mit der Hand aus dem Gesicht. Nach der letzten Ölung durch ihren Pfarrer wurden Lenis Maschinen am Sonntag abgestellt.

Die Eltern schmerzt es nicht nur, dass eine ihrer Töchter gestorben ist. Sie sehen Julia täglich leiden: wegen ihrer schweren Verletzungen, von denen sie sich immer noch nicht erholt hat. Sie hat starke Nervenschmerzen in ihrem rechten Bein. "Sie muss noch mal operiert werden", sagt Melanie. Durch die Vielzahl an Operationen verpasst Julia Denis' Beerdigung. Zu seinem 18. Geburtstag konnte sie ihn am Grab besuchen.

Besonders fehlt Julia ihre Zwillingsschwester, ihr Gegenstück. Sie waren immer zusammen. Hatten den gleichen Beruf, wollten Erzieherin werden. "Sie waren lebensfroh - es hat sie immer nur zu zweit gegeben. Jetzt fehlt eine Hälfte."

Nach dem Unfall kommen die Familien kaum zur Ruhe, um zu trauern. Wie die Polizei selbst einräumt, macht sie in ihrer Pressemitteilung einen Fehler: Der Verstorbene soll 18 Jahre alt sein, steht dort. "Das Chaos war unerträglich", erzählt Uta. War etwa der 17-jährige Denis am Steuer? "Nein, das hätte er nie getan. Das hätte niemand zugelassen." Oder ist der 18-jährige Dominik, der zu dieser Zeit noch im Klinikum war, nun auch gestorben? Nein, alles ein Irrtum.

Zehn Tage später, erinnert sich Familie Bugl, soll eine missverständliche Nachtragsmeldung zum Unfall im Radio gelaufen sein. Einige Zuhörer denken, nun sei auch Julia gestorben. Beileidsbekundungen prasseln auf das Handy von Melanie ein - während ihre Tochter Julia gerade im OP liegt. "Ich habe Rotz und Wasser geheult", sagt Melanie. Ist die OP schief gelaufen? Haben die Ärzte einfach nicht Bescheid geben wollen?

"Ich habe zu Hause angerufen und gesagt, dass wieder jemand tot ist und ich nicht weiß, wer. Ich lag an diesem Tag mit einem Nervenzusammenbruch in einer Liege und dachte, jetzt geht's mit mir dahin." Die Ärzte sagen Melanie schließlich, dass Julia stabil ist. Dass die OP nur länger dauert. Radiozuhörer haben die Meldung missverstanden.

Grundsätzlich war die mediale Aufmerksamkeit für die Familie nicht einfach. Alleine Julia hat nach dem Unfall 700 Freundschaftsanfragen auf Instagram erhalten. Viele aus Neugier. Fremde stellen Fragen. Egoistisch, ohne darüber nachzudenken, was sie der Familie damit antun. Dabei war es für Julia bereits unerträglich, Leni und Denis nicht mehr in ihrem Leben zu haben. Lenis Kuscheltier und der Pulli ihres Freunds Denis geben Julia das Gefühl, dass ihre Liebsten nicht allzu weit weg sind. Sie trägt sie immer bei sich - egal wohin sie geht.

"Ich vermisse beide wirklich sehr", sagt Dominik Root, der Fahrer des Autos. Die vier Jugendlichen waren eine Freundesgruppe. "Sie waren so liebevoll zueinander", sagt Melanie. Julia hat Denis schon länger gekannt und da Denis und Dominik seit neun Jahren beste Freunde waren, hat das eine Pärchen das andere verkuppelt. "Sie haben keinen mehr gebraucht; sie waren als Gruppe perfekt. Sie waren glücklich", sagt Melanie.

Denis und Dominik haben sich aus der Schulzeit gekannt. "Wir waren täglich beieinander." In der Zeit, in der sie nichts ausgemacht haben, hat sie der Zufall immer wieder zusammengeführt, sagt Dominik. Alltägliches erinnert ihn an seinen besten Freund. Besonders zur Volksfest-Zeit. "Denis war ein Festl-Fan." Dass sich der Unfall direkt nach dem Pfingstfest ereignete, hat für die Mütter auch das Gäubodenfest unerträglich gemacht. "Ich kann nicht daran denken. Sie haben sich so sehr darauf gefreut, da miteinander hinzugehen", sagt Uta.

Denis Lohmer (v. l.), Julia und Annalena Bugl sowie Dominik Root auf dem Pfingstfest. Auf dem Nachhauseweg prallt ein Auto in den VW der vier Freunde - zwei von ihnen sterben. Ihr letztes gemeinsames Foto wird mit dem Titel: "Lasst Denis und Leni noch einmal um die Welt gehen" 2 .700 Mal auf Facebook geteilt.

Denis Lohmer (v. l.), Julia und Annalena Bugl sowie Dominik Root auf dem Pfingstfest. Ihr letztes gemeinsames Foto wird mit dem Titel: "Lasst Denis und Leni noch einmal um die Welt gehen" 2.700 Mal auf Facebook geteilt.

Drei Monate später hat Dominik manchmal das Gefühl, Denis zu sehen. Einfach in dem Eck, in dem er neben seinem Mofa stehen würde. Er hat noch seine Stimme im Kopf. Er hat den Anblick von Leni vor Augen, wie sie seinen Pullover trägt. "Er war ihr viel zu groß, aber ihr war kalt", erinnert er sich. "Es sah aus, als würde sie ein Kleid tragen", sagt er. "Total süß."

Dominik wird ständig von einem Gedanken begleitet: "Ich war dafür verantwortlich, alle gesund nach Hause zu bringen." Während er nun mit Krücken seinen Alltag meistert, trägt er eine Bauchtasche mit sich. Zwei Kuscheltiere darin: ein Faultier für Denis, ein Engel für Leni.