Gesund und nachhaltig
Essen ohne Reue: Im Gespräch mit Holger Stromberg
9. Juni 2020, 15:42 Uhr aktualisiert am 15. Juni 2020, 6:59 Uhr
Wie geht Ernährung, ohne den Planeten weiter zu zerstören? Der Koch und Ernährungscoach Holger Stromberg hat sich damit intensiv beschäftigt und ein nachhaltiges Konzept parat.
Klimaschutz ist mehr als der Verzicht aufs eigene Auto. Auch die Ernährung hat einen Einfluss auf die Gesundheit des Planeten. Da ist sich der Koch und Buchautor Holger Stromberg sicher. Der 48-Jährige wurde 1994 mit 23 Jahren Deutschlands jüngster Sternekoch. Von 2007 bis 2017 begleitete Stromberg die deutsche Fußballnationalmannschaft als Koch und Ernährungscoach. Das Thema nachhaltiges Essen ist eine Herzensangelegenheit für ihn. Im Gespräch mit Gäuboden aktuell stellt Stromberg sein Buch vor.
Herr Stromberg, der Titel Ihres Buches lautet "Essen ändert alles". Inwiefern kann Essen alles ändern?
Holger Stromberg: Man kann damit leistungsfähiger und konzentrierter werden und auch depressive Phasen überstehen oder sogar abwenden. Man kann damit natürlich auch abnehmen, aber das ist nicht mein erstes Thema. Mit dem richtigen Essen kann man Allergien wegbekommen. Und man kann damit eine riesige Veränderung für unseren Planeten herbeiführen, die es dringend braucht. Denn mit der Ernährung von heute haben wir nicht nur eine Auswirkung auf uns, sondern auch auf den Planeten. Darum auch der Titel des Buches, denn Essen ändert nun mal alles. Einige haben noch in Erinnerung, wie fürchterlich es ist, kein Essen zu haben. Aber auch wenn wir Essen heute im Überfluss haben, dann ist es oft schwieriger, sich so zurechtzufinden, dass es eine positive Veränderung hat.
Sie waren Sternekoch und Ernährungscoach bei der deutschen Fußballnationalmannschaft. War diese Zeit Ideengeber für das Buch?
Ich habe viele Jahre Leistungssport-Kochen betrieben und das jeden Tag quasi auf Champions-League-Endspiel-Niveau. Wenn man Sternekoch ist, macht man das zweimal am Tag. Das führte zu einem großen körperlichen und seelischen Raubbau. Also war ich irgendwann auch mit Burn-out-Themen beschäftigt, hatte chronische Entzündungen und Allergien. Durch ein Schlüsselerlebnis bei einem Münchner Arzt habe ich damals die Ernährung und Pflanzenkost für mich entdeckt. Ich habe mich da reingefräst und verinnerlicht, dass man nicht erst dann Dinge verändern sollte, wenn es einem schlecht geht. Was wäre passiert, wenn ich mich mit 22 oder 23 Jahren schon so gesund ernährt hätte, so wie ich es heute tue? Diese Erfahrungswissenschaft habe ich dann auch bei meiner Zeit mit der Nationalmannschaft angewendet. Irgendwann beschäftigten mich dazu auch die Themen der Umwelt und des gedankenlosen Umgangs mit Essen. Ich war in den Küchen der Welt unterwegs und das größte in den Küchen war immer der Lebensmittelmülleimer.
Warum das?
Wenn man durch Townships in Afrika oder Brasilien fährt, sieht man, dass die Kinder nichts zu essen haben. Dann geht man in ein Hotel und sieht, was vom Frühstücksbuffet alles in die Tonne fliegt. Das geht nicht. Das hat mich manchmal zu Tränen gerührt und es hat mich nachhaltig beschäftigt. Viele dieser Schlüsselerlebnisse in meinem Leben haben mir verdeutlicht, dass wir jetzt was ändern müssen.
Im Buch schreiben Sie von einer Fresswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich bis heute fortsetzt. Ist das so?
Im und nach dem Krieg hat es Hunger gegeben. Im Wiederaufbau waren die Menschen glücklich, dass sie wieder Essen hatten. Darum haben sie das natürlich auch anders wahrgenommen, wussten es zu schätzen und haben gut gehaushaltet. Die Lebensmittel- oder Nahrungsmittelindustrie hat nach dem Krieg eine herausragende Leistung erbracht und die Menschen schnell wieder gesättigt. Das Rad wurde nur leider nie wieder zurückgedreht.
"Wir entlassen die Menschen als unmündige Esser"
Das heißt konkret?
Es wurde immer mehr produziert, immer günstiger und heute haben wir unglaublich viele leere Kalorien in den Regalen stehen, die die Menschen verzehren, weil sie es einfach nicht besser wissen und weil sie natürlich auch von der Werbung vereinnahmt werden. Unterbewusst wie bewusst. Und dann essen sie zuviel davon, bekommen teilweise starkes Übergewicht und werden dadurch krank.
Wir haben heute hohe Zahlen von Diabetikern. Doch auch die Insulinproduktion ist endlich. Wenn wir weiter so epidemieartige Zuwächse an Diabetikern haben, dann wird es vielleicht irgendwann knapp. Wir haben das Rad total überdreht und in den letzten 40 oder zumindest 30 Jahren vergessen, ein Ernährungslehre-Fach in die Schulen zu bringen, in dem man eine pflanzenbasierte Kost also Vollwertkost lehrt. Wir entlassen die Menschen als unmündige Esser.
In Deutschland ist mehr als die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig, fast ein Viertel ist adipös. Geht unsere Gesellschaft respektlos mit Nahrungsmitteln beziehungsweise Lebensmitteln um?
Das kann man so nicht sagen, auch, wenn ich natürlich sehe, wie viel die Menschen wegwerfen. Aber ich glaube nicht, dass es re-spektlos ist, wenn man nicht weiß, was man tut. Es geht darum, dass wir dahin geführt wurden und dann auch irgendwann nicht mehr wirklich darüber nachgedacht haben. Jahrelang hat es uns nicht beschäftigt, die Geschäfte waren voll, alles war gut. Wir brauchen jetzt diese Lehrstunde und wir brauchen Diskussionen. Ich trete dafür ein, dass bei jedem Stammtisch, in jedem Fußballclub oder bei jeder Thermomix-Party über Ernährung gesprochen werden sollte, denn nur über gemeinsamen Austausch lernen wir dazu.
Was zeichnet gesundes Essen aus?
Die Lebensmittel sollten energetisch hochwertig sein, das heißt, sie sollten eine natürliche Enzymatik aufweisen, faserreich und voll mit Vitalstoffen sein. Sie sollten diese wichtigen Polyphenole, die sekundären Pflanzenstoffe, beinhalten. Und das in einer hohen Dichte und im Gegensatz dazu eine möglichst geringe Kaloriendichte, zumindest in den meisten Lebensmitteln. Denn wir brauchen diese Kalorien in der Form nicht mehr, weil wir zumeist in klimatisierten Räumen sitzen. Wir verrichten unsere Arbeitstätigkeiten meist mit dem Kopf und dafür brauchen wir diese Mengen an Kalorien nicht. Unser Hirn braucht hochwertige Fette, Omega 3, Asparaginsäure, Eiweiß und vor allem Glukose.
"Ein gedämpftes Gemüse ist nicht das, wonach die menschliche DNA sucht."
Woraus sollte der tägliche Speiseplan bestehen?
Der Warenkorb sollte zu 85 Prozent rein pflanzlich sein und davon 85 Prozent Gemüse. Die restlichen 15 Prozent können tierische Produkte und alles andere sein. Ein gedämpftes Gemüse ist nicht das, wonach die menschliche DNA sucht. Wir suchen nach Fett und Zucker. Dadurch, dass wir das wissen, können wir entsprechend agieren und uns selbst die bestmögliche Ernährung zur Verfügung stellen, indem wir das Gemüse so zubereiten und abschmecken, dass wir es durch Sensorik in Kombination mit Geschmacksrichtungen lecker gestalten. Das ist meine Aufgabe und die Aufgabe von uns Köchen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten.
Viele Menschen kaufen kein Obst und Gemüse, weil es ihnen im Vergleich mit anderen Lebensmitteln zu teuer ist. Ist gesundes Essen damit dann auch eine Frage des Geldbeutels?
Das ist definitiv nicht so. Es ist natürlich beschämend, dass heutzutage Schweinefleisch oder Hühnchen so günstig ist wie Sellerie oder Grünkohl. Wenn man sich rein pflanzlich ernährt, wird es den Geldbeutel schonen. Geht man in der Großstadt in ein Reformhaus und nimmt mal so ein Glas Mandelmus in die Hand, dann steht 13,49 Euro drauf und man denkt sich, das habe ich ja gleich aufgegessen. Das ist natürlich ein Thema. Aber wenn ich mir meine Mandeln selber kaufe, sie in Wasser einweiche, zwei Tage im Kühlschrank aufbewahre und sie dann mixe, habe ich mein eigenes Mandelmus. Und es ist so günstig, wie es günstig sein kann. Für 100 Kilo Kartoffeln braucht man 250 Liter Wasser, für die Erzeugung von 100 Kilo Rindfleisch sind es 15.500 Liter Wasser. Aber wenn ich mir eine Kartoffel und dazu grünes Gemüse zubereite und einen Kräuterquark mit einem Schuss Leinöl beigebe, dann haben wir ein günstiges, super gesundes und schmackhaftes Gericht und davon gibt es Tausende. So haben es unsere Großmütter schon über Generationen gemacht. Es ist nicht so, dass die Lösung nicht da ist. Man muss nur den Willen haben, etwas zu verändern.
Und wie funktioniert das im oft stressigen Alltag?
Dazu sage ich "Meal Prep". Die Tupperdose oder das Einmachglas wieder aus der untersten Schublade holen und Essen mit Vorbereitung in den Alltag integrieren. Einmal die Woche Gemüse schälen, waschen, schneiden, vorgaren und einfrieren. So hat man jederzeit im Handumdrehen ein gesundes, leckeres Essen zur Hand. Das ist reine Gewohnheit. Ich möchte die Menschen umbegeistern zu einer intensiven pflanzlichen Ernährung, die gut schmeckt. Mein Buch ist ein Wegweiser, denn erstmal muss man verstehen und überzeugt sein. Es gibt über 30 Rezepte im Buch, die man einfach ausprobieren kann.
"Die Meal Prep-Methode ist so einfach wie genial."
Was empfehlen Sie Menschen, die nicht gerne kochen?
Vor allem in Metropolen wird seltener gekocht. Die Ernährung ist aber etwas, das man jeden Tag braucht und deswegen muss es in den Alltag integriert werden. Und da habe ich für mich erkannt, dass die "Meal Prep"-Methode so einfach wie genial ist. Ich mache meinen Kühlschrank auf, habe meine Vorbereitungen drin und kann mir im Handumdrehen in drei Minuten eine tolle Speise zubereiten. Dann bin ich ein mündiger Esser. Ich möchte dem Menschen vermitteln, dass sie nicht kochen lernen, sondern dass sie mehr über Nahrungs- und Lebensmittel Bescheid wissen müssen und sie sollten zubereiten lernen. Das ist viel wichtiger. Ein gutes Sauerteigbrot, eine Demeter-Qualität (Anm. d. Red: ein Markenzeichen für bio-dynamisches Wirtschaften), tolle Butter, ein gehaltvolles Natursalz, das ist eine gute Mahlzeit. Dazu ein Kopfsalat. Das dauert zweieinhalb Minuten.
Sie hatten ja lange Zeit mit Spitzensportlern zu tun. Empfehlen Sie denen auch eine rein pflanzliche Ernährung?
Auf jeden Fall. Es gibt Spitzensportler, die Veganer und sehr erfolgreich sind. Darum rate ich ihnen wie Menschen generell dazu, den pflanzlichen Anteil auf mindestens 85 Prozent zu erhöhen. Dann können sie auch mal ein Steak essen, aber jeden Tag Fleisch und Fisch am Buffet ist Quatsch. Ich war zehn Jahre lang Koch und Ernährungscoach der Nationalmannschaft. Ich war der erste, der eine vegetarische und eine vegane Mahlzeit eingeführt hat. In Brasilien gab es kaum Milchprodukte und ich habe auch Fleisch und Fisch runtergefahren. Es war natürlich nicht der einzige Grund, warum wir Weltmeister geworden sind (lacht), aber man weiß ja, die Summe der Dinge macht es aus. Ein Spitzensportler unterscheidet sich in der Ernährung grundsätzlich nicht vom Otto Normalverbraucher. Das einzige, was der Spitzensportler mehr essen kann, sind hochkalorische Gerichte, also beispielsweise Pasta und Reis, die ein Schreibtischtäter in der Menge nicht essen soll, weil er sich nicht ausreichend bewegt.
Wenn man gesund isst, lebt man automatisch nachhaltiger, lautet das Fazit Ihres Buches. Das heißt konkret?
Die Sojabohne, die in Deutschland in Lebensmitteln und Tofusäure drinsteckt, dafür wurde kein einziger Baum in Brasilien gefällt. Wenn man heute mehr Gemüse isst, schont man darüber hinaus damit die Nitratbelastung, die bereits im Trinkwasser und in unseren Böden ist. Man wird zum Bodenschützer, wenn man mehr Gemüse isst. Albert Einstein hat es ja schon gesagt: Wenn wir Menschen überleben wollen, dann geht das eben nur mit einer vegetarischen Ernährung.
Was ist Ihr nächstes Projekt?
Mal abgesehen davon, dass wir alle nicht wissen, wie es in der nächsten Zeit weitergeht, sind Online-Kurse und eine intensivere Videoplattform geplant. Für nächstes Jahr ist ein Rezeptbuch angedacht.
"Essen ändert alles" (20 Euro) ist im Südwest Verlag erschienen (ISBN: 978-3-517-09903-3).