"Historischer" Anstieg
Tarifstreit im öffentlichen Dienst: Kompromiss gefunden
23. April 2023, 3:41 Uhr
Gewerkschaften und Arbeitgeber einigen sich nach stundenlangen Verhandlungen in Potsdam auf einen "historischen" Tarifanstieg. Die Kommunen sehen Zusatzkosten in Milliardenhöhe auf sich zukommen.
Mit der größten Tariferhöhung seit Jahrzehnten wird für rund 2,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes der drastische Anstieg der Verbraucher- und Energiepreise abgefedert. Darauf einigten sich Bund, Kommunen und Gewerkschaften am späten Samstagabend nach einer weiteren zähen Verhandlungsrunde in Potsdam. Arbeitnehmer der Länder sind davon nicht betroffen, für sie gilt ein eigenständiger Tarifvertrag.
Zunächst sollen steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen in Höhe von insgesamt 3.000 Euro die Auswirkungen der Inflation für die Beschäftigten von Bund und Kommunen dämpfen. Die ersten 1.240 Euro daraus gibt es bereits im Juni. Ab Juli und bis Februar 2024 sollen dann monatlich jeweils 220 Euro fließen.
"Größte Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte"
Ab März 2024 erhalten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter laut Vereinbarung dann als weiteres Plus einen Sockelbetrag von monatlich 200 Euro brutto sowie eine anschließende Erhöhung von 5,5 Prozent - mindestens aber 340 Euro brutto mehr. Die Laufzeit des neuen Tarifvertrags beträgt 24 Monate. Mit dem Abschluss übernahmen die Tarifparteien in den Kernpunkten die vergangene Woche veröffentliche Schlichtungsempfehlung.
"Das ist die größte Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte im öffentlichen Dienst", sagte Verdi-Chef Frank Werneke im Anschluss an die Gespräche. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) betonte, mit diesem Abschluss könne eine Reinigungskraft im öffentlichen Dienst künftig 360 Euro beziehungsweise 13,3 Prozent mehr erhalten. Werneke sagte: "Eine Pflegekraft bekommt im Rahmen dieses Tarifabschlusses dauerhaft wirkend eine monatliche Entgeltsteigerung von 400 Euro. Oder ein Müllwerker oder eine Müllwerkerin von 357 Euro." Das entspreche einem Plus von 13,4 Prozent.
"Teuerster Tarifabschluss aller Zeiten"
"Wir sind uns unserer großen Verantwortung bewusst für die Beschäftigten, für die öffentlichen Haushalte, für die soziale Gerechtigkeit und für einen starken und handlungsfähigen Staat", sagte Faeser am späten Samstagabend. Die Gesamtkosten des Abschlusses für die vereinbarte Laufzeit beliefen sich für den Bund auf rund 4,95 Milliarden Euro. "Wir sind den Gewerkschaften so weit entgegengekommen, wie wir es in schwieriger Haushaltslage noch verantworten konnten", sagte Faeser.
Die Kommunen gehen gar von einem Vielfachen dieser Belastung aus. Die Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, Karin Welge, sprach vom "teuersten Tarifabschluss aller Zeiten", der die ohnehin schon klammen Städte und Gemeinden rund 17 Milliarden Euro kosten werde. "Die kommunalen Arbeitgeber sind bis an die finanzielle Belastungsgrenze gegangen mit diesem Kompromiss", sagte Welge nach der Einigung. "Und ich glaube, das Paket kann sich insgesamt sehen lassen."
"Hätten uns stärker ausgeprägte soziale Komponente gewünscht"
Verdi und der Deutsche Beamtenbund hatten ursprünglich 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr pro Monat gefordert und dabei vor allem auf die starke Belastung der Beschäftigten durch die hohe Inflation verwiesen. Allein im März erreichten die Steigerungen bei Lebensmittelpreisen laut Daten des Statistischen Bundesamts mit 22,3 Prozent im Vorjahresvergleich den höchsten Stand seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine Ende Februar 2022.
Diese Steigerungsraten erreicht der neue Tarifvertrag nicht. Alle Parteien betonten den Kompromisscharakter der Vereinbarung. "Wir hätten uns eine kürzere Laufzeit gewünscht, wir hätten uns eine stärker ausgeprägte soziale Komponente gewünscht", sagte Verdi-Chef Werneke. Gleichwohl betonte der dbb-Vorsitzende Ulrich Silberbach: "Wir haben eine Inflationsausgleichs-Prämie, die jetzt in der Startphase zunächst mal über den Berg hilft."
Nach monatelangen Verhandlungen und drei ergebnislosen Runden im Tarifstreit hatte es ein Schlichtungsverfahren gegeben. Der dabei vor rund einer Woche zustande gekommene Kompromissvorschlag wurde nun von den Tarifparteien in den Kernpunkten unverändert übernommen.
"Größten Warnstreik-Beteiligung seit vielen Jahren"
Verdi hatte sich durch die massiven Warnstreiks in seiner Verhandlungsposition gestärkt gesehen. Werneke sprach von der "größten Warnstreik-Beteiligung seit vielen Jahren und Jahrzehnten".
Der Tarifabschluss gilt für Tausende Berufszweige - unter anderem Erzieherinnen, Busfahrer, Angestellte von Bädern, Feuerwehrleute, Krankenschwestern, Verwaltungsangestellte, Altenpflegerinnen, Klärwerksmitarbeiter, Förster und Ärzte. Es geht um das Einkommen von über 2,4 Millionen Tarifbeschäftigten der kommunalen Arbeitgeber und 134.000 des Bundes.
Über den am Samstag getroffenen Beschluss lassen Verdi und der Beamtenbund nun noch die eigenen Mitglieder abstimmen. Werneke äußerte sich aber überzeugt, die Mitglieder für die Vereinbarung gewinnen zu können.