Merkels Memoiren
Merkel: Reform der Schuldenbremse für Investitionen wichtig
26. November 2024, 0:10 Uhr
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel plädiert anders als etliche Unionspolitiker für eine Reform der Schuldenbremse zugunsten von Zukunftsinvestitionen. "Die Idee der Schuldenbremse mit Blick auf nachfolgende Generationen bleibt richtig", schreibt die 70 Jahre alte ehemalige CDU-Chefin in ihren Memoiren, die sie heute in Berlin vorstellen will. "Um aber Verteilungskämpfe in der Gesellschaft zu vermeiden und den Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung gerecht zu werden, muss die Schuldenbremse reformiert werden, damit die Aufnahme höherer Schulden für Zukunftsinvestitionen möglich wird."
Deutschland müsse damit "umgehen, dass es durch die hohen unabdingbaren Verteidigungsausgaben zu Konflikten mit anderen Politikbereichen kommen wird", warnt Merkel. Klar sei, dass Ausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für den Verteidigungshaushalt nicht ausreichten. Um zugleich den Wohlstand zu erhalten, bedürfe es Ausgaben in Forschung und Entwicklung von mindestens 3,5 Prozent des BIP. Zudem sei viel Geld für die Entwicklungszusammenarbeit und die Transformation zum klimaneutralen Leben und Wirtschaften bis 2045 nötig.
Die 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse verbietet Bund und Ländern weitgehend, ihre Haushalte mit Hilfe neuer Kredite zu finanzieren. Während für die Länder ein absolutes Verschuldungsverbot gilt, ist dem Bund eine Nettokreditaufnahme in Höhe von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestattet. Es gibt Ausnahmen von der Schuldenbremse, etwa in bestimmten Notlagen.
Vor der geplanten vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar dürfte der Union Merkels Forderung nicht sehr gelegen kommen, CDU/CSU pochen seit langem auf die Einhaltung der Schuldenbremse. Unions-Kanzlerkandidat und CDU-Chef Friedrich Merz hatte aber kürzlich erklärt, die Schuldenbremse sei ein technisches Thema und selbstverständlich zu reformieren. Die Frage sei, wozu. Offen zeigte er sich für eine Reform, wenn diese etwa Investitionen, dem Fortschritt oder den Lebensgrundlagen der jungen Generation diene.
Die Altbundeskanzlerin stellt ihre Memoiren, die sie zusammen mit ihrer langjährigen Vertrauten Beate Baumann unter dem Titel "Freiheit. Erinnerungen 1954 - 2021" geschrieben hat, im Deutschen Theater in Berlin vor. Der Abend wird moderiert von der Journalistin Anne Will. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch schreibt zu dem fast 740 Seiten starken Buch, es biete "einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht".
Anders als zu ihrer 16 Jahre langen Amtszeit lässt Merkel an einigen Stellen des Buches Blicke hinter die Kulissen der Politik zu. Große Überraschungen sind nicht zu finden, ebenso wenig wie Eingeständnisse von gravierenden Fehlern in Bereichen, in denen ihr viel Kritik entgegengeschlagen ist.
Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte Merkel, sie halte keine ihrer Entscheidungen in den verschiedenen Krisen während ihrer Amtszeit für einen klaren Fehler. Sie nehme die Kritik etwa an ihrer Russland-, Flüchtlings-, Corona- und Digitalisierungspolitik zur Kenntnis, aber: "Ich mache keinen Rückzieher von meinen Entscheidungen." Sie zeigte sich zudem betrübt, dass oft der Wille fehle, sich in die Umstände ihrer Amtszeit zurückzuversetzen.
Wichtige Passagen des Buches im Überblick:
Merkel warnt: Wenn die demokratischen Parteien annähmen, sie könnten die AfD kleinhalten, "indem sie unentwegt über deren Themen sprechen und sie diese dabei am besten auch noch rhetorisch übertrumpfen wollen, ohne tatsächliche Lösungen für bestehende Probleme anzubieten, dann werden sie scheitern". Wenn sie es aber schafften, über parteipolitische Grenzen hinweg wirksame Antworten zu entwickeln und umzusetzen, "nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich und im Ton maßvoll, dann belohnen die Bürger sie dafür". Das gelte auch und gerade für die Flüchtlingspolitik.
"Die übergroße Mehrheit der Menschen hat ein untrügliches Gespür dafür, ob Politiker aus reinem Kalkül handeln, ob sie sich sogar von der AfD gleichsam am Nasenring durch die Manege führen lassen oder ob sie handeln, weil sie aufrichtig daran interessiert sind, Probleme zu lösen", schreibt Merkel. Ihr wird vorgehalten, die AfD durch ihre Migrationspolitik erst groß gemacht zu haben.
Ein Satz und ein Foto werden für immer mit Merkels Flüchtlingspolitik verbunden sein. Bei ihrer Sommerpressekonferenz im August 2015 betonte sie mit Blick auf die anschwellenden Flüchtlingszahlen, Deutschland sei ein starkes Land. "Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!" Über die Wirkung dieses Satzes staunt die CDU-Politikerin bis heute. "Hätte mir damals jemand gesagt, dass "Wir schaffen das", diese drei banalen Worte, mir später wochenlang, monatelang, jahrelang, von einigen bis heute vorgehalten würden, hätte ich ungläubig geguckt und gefragt: Wie bitte?"
Auch die Wirkung eines Selfies mit einem syrischen Flüchtling sah Merkel nicht voraus. "Ich hatte in dem Moment nicht die geringste Vorstellung davon, welche Wellen dieses Bild und weitere Selfies schlagen würden, die ich an dem Tag zuließ, sondern dachte: Warum nicht?"
Merkels Bilanz zur Flüchtlingspolitik enthält eine Mahnung: Europa müsse seine Außengrenzen schützen. "Zugleich jedoch sollten Deutschland und Europa nie in Versuchung geraten anzunehmen, sie könnten sich mit noch so drastischen Maßnahmen unattraktiv für Menschen aus anderen Regionen unserer Erde machen. Das wird nicht gelingen." Der Wohlstand und die Rechtsstaatlichkeit würden Deutschland und Europa immer zu "Sehnsuchtszielen" machen. "Damit können wir erfolgreich nur umgehen, wenn der Kampf gegen Schlepper und irreguläre Migration immer auch mit dem Bemühen verbunden ist, Kontingente für legale Migration zu schaffen."
Merkel rechtfertigt ihren Kurs mit staatlichen Kontaktbeschränkungen und Alltagsauflagen. "Die Alternative wäre gewesen, alle Menschen in kurzer Zeit der von dem Virus verursachten Erkrankung auszusetzen und dabei zuzusehen, wie unser Gesundheitssystem kollabierte. Dabei hätten wir den Tod vieler, besonders der Alten und Vorerkrankten, riskiert, wenn nicht billigend in Kauf genommen." Schwer erträglich habe sie es gefunden, wenn es bei Toten "scheinbar beruhigend hieß, dass ein Mensch nicht an Corona gestorben sei, sondern mit Corona. Es hätte noch gefehlt, dass man "nur" voranstellte, nach dem Motto: der Mensch war so alt oder so vorerkrankt, der wäre sowieso bald gestorben, ob mit oder ohne Corona."
Mit Blick auf manche Beratungen lässt Merkel rückblickend Frust erkennen. "Auch wenn ich unsere föderale Ordnung in Deutschland im Grundsatz für richtig hielt: Jetzt verzweifelte ich an ihr." Als Naturwissenschaftlerin habe es sie "schier verrückt" gemacht, nach dem in der Politik so beliebten Prinzip Hoffnung vorzugehen. Manchmal sei es für sie auch nur schwer zu ertragen gewesen, "wenn Politiker Wissenschaftler bezichtigten, permanent ihre Meinung zu ändern, und damit ein großes Missverständnis über das Wesen von Wissenschaft und Forschung offenbarten". Über eine Bund-Länder-Runde 2020, bei der ein Forscher "wie ein dummer Schuljunge behandelt" worden sei, schreibt sie: "Innerlich kochte ich."
Merkel räumt zwar ein, dass sie für das 2014 beim Nato-Gipfel in Wales vereinbarte Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes für Verteidigung auszugeben, "tatsächlich nicht jeden Tag eine flammende öffentliche Rede" gehalten habe. Den Vorwurf von Vertretern aus SPD, Grünen und FDP, gerade in ihrer Regierungszeit sei die Verteidigung massiv vernachlässigt worden, kontert Merkel allerdings. "Der Redlichkeit halber muss aber daran erinnert werden, dass es nicht CDU und CSU, sondern die Sozialdemokraten waren, die sich mit der Erhöhung der Verteidigungsausgaben, gelinde gesagt, schwergetan haben."
Das Aussetzen der Wehrpflicht war einer von mehreren Kehrtwenden in Merkels Politik. "Die Union wollte an ihr festhalten, auch ich persönlich", schreibt sie. Der Koalitionspartner FDP wollte die Wehrpflicht dagegen wegen der nicht mehr gegebenen Wehrgerechtigkeit aufgeben. Nach Merkels Darstellung war das Aussetzen letztlich die Gegenleistung für Einsparungen im Verteidigungsetat von zwei Milliarden Euro durch eine Verkleinerung der Bundeswehr, die der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im Juni 2010 bei den Beratungen für den Bundeshaushalt 2011 schlucken sollte. "Guttenberg war außer sich." Er verlangte demnach im Gegenzug ein Aussetzen der Wehrpflicht. Durch viel Überzeugungsarbeit an der Basis der CDU und in der CSU legte er laut Merkel dafür schließlich die Grundlage.
Mit Blick auf zwei Jahrzehnte gemeinsamer Begegnungen mit Wladimir Putin schreibt Merkel, der russische Präsident und mit ihm sein Land hätten sich "von anfänglicher Aufgeschlossenheit für den Westen über die Entfremdung von uns bis zur völligen Verhärtung" verändert. Auch im Rückblick halte sie es aber für richtig, dass sie bis zum Ende ihrer Amtszeit Wert darauf gelegt habe, "meinen eigenen Gesprächsfaden zu Putin nicht abreißen zu lassen sowie auch durch Handelsbeziehungen - über die gegenseitigen wirtschaftlichen Vorteile hinaus - Verbindungen aufrechtzuerhalten".
Niemand wisse, ob Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hätte verhindert werden können, wenn es die Corona-Pandemie nicht gegeben hätte und statt virtueller Treffen persönliche Begegnungen möglich gewesen wären, schreibt Merkel. "Aber sicher ist, dass Corona wie ein Sargnagel für das Minsk-Abkommen gewirkt hat", das 2015 von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland vereinbart worden war.
Ausdrücklich spricht sich Merkel für diplomatische Initiativen aus, um den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu beenden. Die Fähigkeit zur Abschreckung sei das eine, "sie muss einhergehen mit der Bereitschaft zu diplomatischen Initiativen. Diese müssen vorgedacht werden, um im richtigen Moment zur Verfügung zu stehen". Wann der gekommen sei, "kann nicht allein von der Ukraine entschieden werden, sondern nur gemeinsam mit ihren Unterstützern". Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte kürzlich das erste Telefonat von Kanzler Olaf Scholz (SPD) mit Putin seit fast zwei Jahren scharf kritisiert und erklärt: "Der Anruf von Olaf öffnet meiner Meinung nach die Büchse der Pandora."
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