Bundesverfassungsgericht
Karlsruhe kippt harte Klinik-Pflicht zu Zwangsmaßnahmen
26. November 2024, 5:00 Uhr
Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente verabreichen - und all das gegen den Willen der Betroffenen? Unter bestimmten Voraussetzungen ist das als letztes Mittel rechtlich erlaubt.
Bisher dürfen diese sogenannten ärztlichen Zwangsmaßnahmen aber nur in Krankenhäusern durchgeführt werden - und nicht etwa in spezialisierten ambulanten Zentren, in Pflegeheimen oder im häuslichen Umfeld. Das Bundesverfassungsgericht will nun klären, ob das mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Grundsätzlich gilt: Ärztliche Zwangsmaßnahmen dürfen nur das letzte Mittel sein. Davor gibt es ein mehrstufiges Prüfverfahren.
So muss die Maßnahme laut Gesetz etwa notwendig sein, "um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden vom Betreuten abzuwenden". Zudem muss sie "im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist", erfolgen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2016 schon einmal eine Nachbesserung der entsprechenden gesetzlichen Regelungen verlangt. Bis dahin war Voraussetzung für solche Maßnahmen unter anderem, dass die Patienten in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht waren.
Hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, durften nach damals geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren Willen ärztlich behandelt werden. Das verstoße gegen die Schutzpflicht des Staates, entschied der Erste Senat. Der Gesetzgeber musste die Schutzlücke unverzüglich schließen. (Az. 1 BvL 8/15)
Im konkreten Fall geht es diesmal um eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die laut Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Sie wohne in einem Wohnverbund und werde regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt.
2022 hatte ihr Betreuer den Angaben nach beantragt, der Frau ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentierte, in der Vergangenheit sei der Transport in die Klinik manchmal nur möglich gewesen, indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer Retraumatisierung.
Gerichte lehnten den Antrag ab, sodass der Fall schließlich beim BGH landete. Nach dessen Überzeugung ist die Verpflichtung, eine solche Zwangsmaßnahme in einem Krankenhaus durchzuführen, mit Artikel 2 des Grundgesetzes unvereinbar. Aus diesem Artikel folge eine Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit.
Der BGH legte den Fall daher dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Im Juli verhandelte der Erste Senat dazu mündlich in Karlsruhe.
Der Transport ins Krankenhaus könne für Betroffene eine erhebliche Belastung bedeuten, erklärte etwa Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde in der Verhandlung. Allein die Fahrt dauere manchmal 20 bis 30 Minuten, die der Patient in der Regel bewusst mitbekomme.
Bei Fixierungen könnten Menschen verletzt werden. Im Einzelfall könnten die Einsätze gravierende körperliche oder psychische Folgen haben, sagte er. Lebe jemand beispielsweise in der Vorstellung, gefoltert zu werden, könne dies verstärkt werden.
Die Bundesregierung will die bestehende Regelung beibehalten, machte Ministerialdirektorin Ruth Schröder aus dem Bundesjustizministerium im Juli in Karlsruhe deutlich. Es sei nicht möglich, Ausnahmen im Gesetz allgemein zu regeln, ohne dass Tür und Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden. Gerade in das private Umfeld der Menschen sollten diese Maßnahmen nicht eingreifen. Auch könnten in Krankenhäusern multiprofessionelle Teams ihre Expertise einbringen.
Diese Position unterstützten Fachleute, etwa des Deutschen Richterbunds und der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen.
Grundsätzlich sei die Bindung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt im Krankenhaus zwar zulässig, urteilten die Karlsruher Richterinnen und Richter. Die ausnahmslose Vorgabe, dass diese ausschließlich im Krankenhaus erfolgen müssten, sei aber verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Den Gesetzgeber verpflichtete der Senat bis Ende 2026 zu einer Neuregelung. Bis dahin gilt das bisherige Recht weiter.
So ist der Krankenhausvorbehalt nach Ansicht des obersten Gerichts unverhältnismäßig, wenn bestimmte Voraussetzungen zusammentreffen. Die erste besteht darin, dass dem Betroffenen dadurch erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit drohen. Zudem müsse diese Beeinträchtigung in der Einrichtung, in der die Betroffenen untergebracht sind, vermieden oder zumindest signifikant reduziert werden können. Bedingung ist auch, dass der Standard der Einrichtung mit Blick auf die notwendige medizinische Versorgung nahezu einem Krankenhaus gleicht.
Im konkreten Fall hatte das Bundesverfassungsgericht die Situation einer Frau aus Nordrhein-Westfalen unter die Lupe genommen, die laut Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Sie wohne in einem Wohnverbund und werde regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt.
2022 hatte ihr Betreuer den Angaben nach beantragt, der Frau ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentierte, in der Vergangenheit sei der Transport in die Klinik manchmal nur möglich gewesen, indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer Retraumatisierung. Gerichte lehnten den Antrag ab, so dass dieser Fall schließlich beim BGH landete.
Der BGH hatte das Thema dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, weil er die geltende Rechtslage für unvereinbar mit Artikel 2 des Grundgesetzes hielt. Aus diesem Artikel folge eine Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit. Das Bundesverfassungsgericht folgte nun dieser Einschätzung.
Der Gesetzgeber hat dem Senat zufolge verschiedene Möglichkeiten, um den festgestellten Verfassungsverstoß zu beseitigen. Entweder er hebt die Pflicht eines stationären Krankenhausaufenthalts auf und ersetzt sie durch eine für alle Anwendungsfälle flexiblere Regelung oder er behält das Verbot von ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern grundsätzlich bei und ergänzt es um eine Ausnahmeregelung.
Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener zeigte sich nach dem Urteil bestürzt. Die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgern werde "auf perfide Weise ins Gegenteil verkehrt". Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention seien vorprogrammiert. Der Verband kündigte an, gegebenenfalls Fälle ambulanter Zwangsbehandlung vor das UN-Komitee für die Behindertenrechtskonvention in Genf zu bringen.
"Wir sind nicht angetan vom heutigen Urteil, weil es ein Misstrauen in das Patienten-Therapeuten-Verhältnis hineinbringt", erklärte nach der Verhandlung Rüdiger Hannig von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe. "Der hohe Schutzzaun der Klinik" werde eingerissen. "Andererseits sehen wir, dass die Möglichkeit sehr klein gehalten ist. Es hängt vom Gesetzgeber ab, wie es jetzt formuliert wird."
Andrea Gerlach, die Leiterin des Wohnverbundes, in der die Frau aus dem konkreten Fall untergebracht ist, begrüßte wiederum die Entscheidung des Senats. Für die Patientin würde eine neue Regelung weniger Leid bedeuten, sagte Gerlach. Denn bisher müsste sie unter "extrem hohem" Zwang in die Klinik gefahren werden. Eine neue Lösung könnte diesen Zwang für die Patientin vermindern.
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