Politik

Grüner Landrat kritisiert Migrationspolitik: "Wir sind am Leistungslimit!"

Der grüne Landrat des unterfränkischen Kreises Miltenberg hat bereits zum zweiten Mal einen Brandbrief an den Bundeskanzler geschrieben.Er fordert ein Umsteuern in der Migrationspolitik.


Jens Marco Scherf (Grüne).

Jens Marco Scherf (Grüne).

Von Natalie Kettinger

AZ-Interview mit Jens Marco Scherf: Der Grüne (48) ist seit 2014 Landrat des Kreises Miltenberg in Unterfranken.

AZ: Herr Scherf, Sie haben vor wenigen Tagen gemeinsam mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer einen Brandbrief in Sachen Migration an Kanzler Olaf Scholz geschrieben. Es war bereits Ihr zweiter. Hat das Kanzleramt geantwortet?
JENS MARCO SCHERF: Indirekt: Der erste Brief Anfang Januar, den ich gemeinsam mit den Bürgermeistern meines Landkreises verfasst habe, hatte zum Ziel, Hilferufen wie der Brüsseler Erklärung der bayerischen Landräte Nachdruck zu verleihen: Reagiert in München und Berlin bitte endlich auf die Probleme vor Ort! Im Februar gab es dann einen Migrationsgipfel unter Leitung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Inhaltlich war dieser erste Gipfel ein Schuss in den Ofen: ergebnislos. Aber er hat immerhin die Perspektive geliefert, dass es am 10. Mai einen Nachfolgegipfel unter Leitung von Bundeskanzler Scholz geben wird.

Eine frühere Schule wird zur Notunterkunft - genau wie in Miltenberg. "Die große Anzahl der Geflüchteten überfordert uns", sagt Landrat Scherf.

Eine frühere Schule wird zur Notunterkunft - genau wie in Miltenberg. "Die große Anzahl der Geflüchteten überfordert uns", sagt Landrat Scherf.

Und der zweite Brief?
Der hat zwei strategische Ziele: den Druck auf diesen Flucht-Gipfel zu erhöhen, damit er auch wirklich Ergebnisse liefert. Und zweitens wollen Boris Palmer und ich als Kommunalpolitiker ein deutliches Signal senden, dass wir nicht nur Bewegung vom Bund fordern, sondern auch einen Beitrag leisten mit konkreten Vorschlägen.

Wie ist die Situation in Ihrem Landkreis?
Ich treffe mich gleich mit den Anwohnern einer kleinen Flüchtlingsunterkunft mit etwa 30 Plätzen, die im April eingerichtet werden soll. Obwohl mein Team schon in der Gemeinderatssitzung war, ist der Gesprächsbedarf so groß, dass ich als Landrat selbst kommen muss. Das kann der Landrat durchaus mal machen. Aber wir müssen 20 bis 30 Geflüchtete pro Woche unterbringen. Das heißt: Wir brauchen jede Woche eine neue Unterkunft dieser Größe, jede Woche ein neues Haus. Wir sind am Leistungslimit! Wir haben momentan 1240 Plätze in circa 55 Unterkünften im Landkreis und von denen sind etwa 1160 Plätze belegt. Wir haben jetzt eine erste Notunterkunft mit 60 Plätzen in einer alten Schule eingerichtet. Aber das wird nicht reichen. Wenn die Prognosen des Bundes zutreffen, haben wir am Ende des Jahres doppelt so viele Geflüchtete wie jetzt. Deshalb bereiten wir momentan eine zweite Notunterkunft mit 100 bis 200 Plätzen vor. Wir wissen einfach nicht mehr, wohin mit den Menschen. Die große Anzahl der Geflüchteten überfordert uns.

Zumal viele nicht einmal dann aus den Gemeinschaftsunterkünften ausziehen können, wenn ihr Verfahren abgeschlossen und sie anerkannt sind.
Wir haben einfach keinen Wohnraum. Der Markt im Landkreis Miltenberg ist erschöpft. Bezahlbare Wohnungen sind brutalst Mangelware, auch für Menschen im unteren sozial-ökonomischen Bereich, die Anspruch auf Wohngeld haben.

Es entsteht also eine Konkurrenz-Situation?
Absolut. Dabei waren wir nicht untätig: Während der Flüchtlingskrise 2015/2016 ist auf meine Initiative hin eine Sozialer-Wohnraum-Börse entstanden - und zwar für alle Menschen mit Anspruch auf Wohngeld, für Geflüchtete genauso wie für die alleinerziehende deutsche Mutter oder jemanden mit Migrationshintergrund, der seit vier Jahrzehnten hier lebt. Aber wenn kaum noch etwas da ist zum Vermitteln, hilft auch eine solche Wohnraum-Börse nicht mehr.

Wie wird es weitergehen?
Schon jetzt ist die Zahl der Geflüchteten auf einem historisch hohen Niveau: 29 000 im Januar, 24 000 im Februar und es sollen eher noch mehr werden. Wir steuern auf ein neues Rekord-Jahr zu. Deshalb brauchen wir Struktur und Steuerbarkeit bei der Fluchthilfe und in der Migration. Was uns außerdem minimal helfen würde: Die Geflüchteten sollen bitte erst in die Verantwortung der Kommunen kommen, wenn klar ist, dass sie eine Bleibeperspektive haben. Die Verfahren müssen beschleunigt werden, so dass wir direkt vor Ort mit den Integrationsmaßnahmen beginnen können - wobei die Kapazitäten in den Integrationskursen aktuell bei Weitem nicht ausreichen: Bei uns leben Ukrainer, die im Sommer gekommen sind und noch keinen Platz im Integrationskurs haben. Geflüchtete, die wir jetzt aufnehmen, werden frühestens im Herbst einen Platz bekommen.

Was meinen Sie genau, wenn Sie sagen, man müsse die Strukturen verändern?
Wir müssen die unterschiedlichen Migrationsbereiche trennen: Der erste ist die staatliche Verfolgung. Dafür gibt es politisches Asyl, festgelegt im Grundgesetz, unverrückbar und auch nicht kontingentierbar. Staatliche Verfolgung betrifft aber von den momentan Flüchtenden weit weniger als ein Prozent. Dann haben wir den großen Bereich Flucht: Menschen in Not nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Und der dritte Bereich ist die Arbeitsmigration. Das dürfen wir nicht vermischen. Wir müssen auf der einen Seite Hilfe für Menschen in Not im Rahmen unserer Möglichkeiten leisten und uns auf der anderen um die klar an Kriterien definierte Arbeitsmigration kümmern. Wenn das so unkoordiniert und unstrukturiert weiterläuft wie bisher, verlieren wir gesamtgesellschaftlich die Akzeptanz für Migration generell, auch für die Arbeitsmigration.

Das bedeutet?
Wir müssen die Hilfe nach der Genfer Flüchtlingskonvention kontingentieren und dabei die Leistungsfähigkeit unserer Kommunen mitberücksichtigen. Das heißt aber nicht, dass wir Not und Elend der Menschen in Afrika oder im arabischen Raum ignorieren. Wir müssen über das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mehr Verantwortung in den Herkunftsländern übernehmen und auch dort menschenwürdige Verhältnisse schaffen. Steuerbarkeit bedeutet außerdem, dass Antragsstellung und Verfahren schon in den Herkunfts- und Transitländern möglich sein müssen. Was in meinen Augen nämlich richtig unmenschlich ist: Hilfe bekommt in Deutschland nur derjenige, der es schafft, diesen 4000 oder 5000 Kilometer langen Fluchtweg, geprägt von Kriminalität oder über das Mittelmeer, übersteht. Da sind keine alten Menschen dabei, Frauen sind ganz stark unterrepräsentiert und Kinder sind auch kaum noch darunter. Andererseits wollen viele dieser Menschen in Deutschland arbeiten, was ja legitim ist. Die sollte man gleich aus dem Bereich Flucht herausnehmen, sauber über Arbeitsmigration. Die Bundesregierung ist ja schon dabei, da legale Wege zu finden.

Ihre Standpunkte sind innerhalb ihrer Partei umstritten. Die Grüne Jugend nennt sie "menschenverachtend", Sie wurden als "Nazi" beschimpft und zum Austritt aufgefordert. Gibt es auch Zustimmung?
Natürlich. Ich gehöre ja zum Netzwerk der "Vert Realos", in dem sich mehrere Hundert Grüne bundesweit vernetzt haben. Da erhalte ich große Unterstützung. Klar kommen vom extremen linken Flügel vereinzelt sehr negative Reaktionen. Aber der Diskussionsprozess mit der Partei insgesamt kommt langsam in Gang. Parteichef Omid Nouripour hat jetzt eine Arbeitsgruppe mit Europa-, Bundes- und Landespolitikern sowie der kommunalen Ebene gegründet, damit wir konzeptionell an dem Thema arbeiten. Außerdem bin ich in gutem Austausch mit der Bundestagsfraktion, die an einem neuen Migrationskonzept feilt. Dieser Diskurs ist wichtig. Schließlich stehen wir Grünen für eine offene, vielfältige Gesellschaft und positiv zum Thema Migration. Aber wir müssen Antworten auf die Probleme finden. Nur dann schaffen wir die Grundlage dafür, dass wir auf lange Sicht sowohl unserer humanitären Verantwortung gerecht werden können als auch die Arbeitsmigration ermöglichen, die wir dringend brauchen.

Die Grünen im Freistaat stellen am Montag ihr "Regierungsprogramm für Bayern" vor. Sind Ihre Positionen eingeflossen?
Ja. Ich war auch mit Fraktionschefin Katharina Schulze sowie dem Landesvorsitzenden Thomas von Sarnowski im Austausch und habe daran mitgewirkt, dass die momentanen Probleme auf kommunaler Ebene im Programmteil Migration ausreichend berücksichtigt werden.