Porträt

Palmer: Gefeierter Bürgermeister, verachteter Provokateur

Boris Palmer wird von den einen wird er für seine Politik in Tübingen gefeiert, von anderen für seine grenzüberschreitenden Äußerungen verachtet.


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Mit polarisierenden Aussagen wurde er zum bekanntesten Bürgermeister Deutschlands: Boris Palmer.

Von dpa

"Nazis raus, Nazis raus, Nazis raus", ruft die Menge Boris Palmer am Freitag vor einem Gebäude der Universität in Frankfurt am Main zu. Palmer ruft mit, obwohl er weiß, dass die Rufe auf ihn gemünzt sind. Er, der von vielen als blitzgescheit und blitzschnell im Kopf bezeichnet wird, ringt sichtlich erregt um Worte.

Dann sagt Palmer den Satz, der ihn, wieder einmal, ins Zentrum einer sich überschlagenden Debatte rückt: "Das ist nichts anderes als der Judenstern. Und zwar, weil ich ein Wort benutzt habe, an dem ihr alles andere festmacht. Wenn man ein falsches Wort sagt, ist man für euch ein Nazi." Zuvor hatte er der Gruppe versucht zu erklären, wie und warum er öffentlich das "N-Wort" verwendet.

Der Satz ist Auslöser eines Falls, dessen Tiefe bislang unklar ist. Fest steht: Der Absturz ist selbst für Palmer beispiellos, der einst als möglicher Nachfolger von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann gehandelt wurde, mit seiner Kommunalpolitik drei Mal in Folge die Bürgermeisterwahlen in Tübingen gewinnen konnte - und es trotzdem immer wieder nicht schaffte, im richtigen Moment einfach mal nichts zu sagen. Und es ist ein weiterer Anlass, bei dem deutlich wird, warum die einen den selbstbewussten Bürgermeister verachten und einen Rassisten nennen, während die anderen ihn für seine erfolgreiche Kommunalpolitik feiern.

Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass der 50-Jährige Politik-Profi, der um ein provokantes Zitat nie verlegen ist, im Kreuzfeuer der öffentlichen Erregung steht. Es ist auch ein Teil seines Erfolgskonzeptes: Mit polarisierenden Aussagen wurde er zum bekanntesten Bürgermeister Deutschlands und bekam Einladungen in alle Talkshows der Republik. Immer wieder produzierte er Skandale mit Aussagen, die mit seinem Amt als Oberbürgermeister eigentlich wenig zu tun haben. Bereits im Mai 2021 hatte er in einem Facebook-Beitrag über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo, der einen nigerianischen Vater hat, das sogenannte N-Wort benutzt. Dies hatte massive Kritik auch bei seinen damaligen grünen Parteikollegen ausgelöst - und ihm ein Parteiausschlussverfahren eingebracht. Mit dem sogenannten N-Wort wird heute eine früher in Deutschland gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben.

Während der Corona-Pandemie sagte er in einem Interview: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären". Und brachte damit erneut seine Partei und auch viele Wählerinnen und Wähler gegen sich auf. Gerade in der Flüchtlingspolitik eckte er mit seinen Aussagen immer wieder an - besonders in der eigenen Partei. Die Reaktionen der Grünen-Funktionäre über seinen Parteiaustritt wirken daher auch eher erleichtert. Von einem "konsequenten Schritt" sprechen etwa die Landesvorsitzenden, von einer "erfreulichen Nachricht" die Grüne Jugend.

Weil er aber auch ein Kommunalpolitiker ist, der lieber schnell handelt als lang redet, und Töne trifft, die den Grünen in der politischen Mitte helfen, bedauern andere Grüne seinen Austritt. "Persönlich tut es mir Leid um diesen klugen Kopf, der unsere Partei über eine sehr lange Zeit streitbar bereichert hat", sagte Ministerpräsident Kretschmann. Er sprach von einem Drama. "Das berührt uns sehr. Ich finde das außerordentlich schmerzlich, was da passiert ist." Der bayerische Grünen-Landrat Jens Marco Scherf, mit dem Palmer gemeinsam einen Appell zur Flüchtlingspolitik an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gerichtet hatte, will Palmer auch eine Rückkehr in die Partei offen halten: "Die Grünen sollten ihrerseits die Tür nicht dauerhaft verschließen. Das ist mir ein Anliegen", sagte er.

Es ist noch nicht lange her, dass die Partei, aus der Palmer nun ausgetreten ist, ihn feierte: Für seine Klimaschutzpolitik in Tübingen und seinen eindrucksvollen Wahlsieg im vergangenen Oktober. Damals holte er im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, auch weil er sich auf Tübinger Themen fokussierte, mit denen er unbestreitbar punkten kann. Die Stadt kann bis 2030 klimaneutral werden, gleichzeitig sind neue Arbeitsplätze entstanden. Damals genoss er den Jubel um seine Person sichtlich, dirigierte die Blaskapelle auf dem Marktplatz mit großer Geste.

Auch Palmer und seinem Umfeld ist klar, dass seine polarisierenden Äußerungen zu Hause in Tübingen eher abschrecken, oder zumindest nicht gerade helfen. "Er ist ein leidenschaftlicher Politiker, der enorme Erfolge in Tübingen zu feiern hat, aber eben auch persönliche Schwächen, die ihn immer wieder in diese Situationen bringen", sagt etwa Palmers Wahlkampfmanager und Berater Lorenz Brockmann. Immer wieder wurde Palmer vorgeworfen, bewusst Tabus zu brechen. Brockmann sieht das nicht so. Palmer könne nicht anders: "Es ist sein Anliegen, gesellschaftspolitische Themen anzusprechen und Sprachverbote als undemokratisch zu bezeichnen. Wie er es immer wieder schafft, sich damit aufs Glatteis zu führen, quält ihn und belastet ihn."

Palmer selbst erklärt sich seine emotionalen Äußerungen in Frankfurt so: "Wenn ich mich zu Unrecht angegriffen fühle und spontan reagiere, wehre ich mich in einer Weise, die alles nur schlimmer macht", schrieb der Politiker in einer persönlichen Erklärung. Von einer großen Gruppe als Nazi bezeichnet zu werden, habe in ihm "tief in mir sitzende Erinnerungen wach gerufen".

Palmers jüdische Vorfahren waren selbst durch die Nazis verfolgt worden. Seine Familie habe sich dem Judenstern durch Flucht gerade noch entziehen können. "Mein Vater Helmut wurde in der Schule mit dem Namen "Moses" gerufen und nach dem Krieg mehrfach zu Haftstrafen verurteilt, weil er Nazis Nazis nannte", schrieb Palmer am Samstag auf Facebook. Helmut Palmer war in der Nachkriegszeit unter anderem als Bürgerrechtler aktiv und durch sein provokantes Auftreten als "Remstal-Rebell" bekannt.

Nach dem Skandal um die Äußerungen in Frankfurt am Main wurde es um Boris Palmer auch dort schnell einsam, wo er eigentlich am besten vernetzt ist: In Tübingen. Enge Wegbegleiter wandten sich von ihm ab, etwa sein Anwalt und Freund Rezzo Schlauch, der ihn noch im Parteiausschlussverfahren verteidigt hatte. Auf Abstand gingen auch prominente Tübinger wie der Schlagersänger Dieter Thomas Kuhn, der Palmer im Wahlkampf unterstützt hatte.

Am Wochenende reifte im sonst so selbstsicheren Palmer offenbar die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen könne. "Solange ich nicht sicher bin, neue Mechanismen der Selbstkontrolle zu beherrschen, die mich vor Wiederholungen sichern, werde ich alle Konfrontationen mit ersichtlichem Eskalationspotenzial durch Abstinenz vermeiden", schrieb Palmer in seiner persönlichen Erklärung überraschend selbstkritisch. Kurze Zeit später trat er aus der Partei aus, der er seit 1996 angehört hatte und für die er vor seiner Zeit als Bürgermeister auch im Landtag saß. Am Dienstagabend teilte Palmer dann mit, im Juni eine einmonatige Auszeit nehmen zu wollen. Auf seinem Facebook-Profil, über das sich in der Vergangenheit einige der Debatten abgespielt hatten, veröffentlichte er ein Bild, auf dem in großen Buchstaben das Wort "Auszeit" zu lesen ist.

Dass er danach zurückkehren wird - und zwar mit Tübinger Themen - machte er am Dienstag ebenfalls über Facebook deutlich: Dort postete Palmer ein Bild von neugepflanzten Bäumen auf dem Mittelstreifen einer Straße. "An solchen Entwicklungen freue ich mich", schrieb Palmer dazu. Daran werde er auch weiter arbeiten. "Nächstes Jahr wollen wir mindestens 100 neue Straßenbaumstandorte einrichten", schrieb er.