Afghanistan-Krise
Bundeswehr-Flieger evakuiert 205 Menschen aus Kabul
21. August 2021, 22:08 Uhr aktualisiert am 21. August 2021, 22:08 Uhr
Die Bundeswehr fliegt weiter Menschen aus Afghanistan aus - doch am Samstag schafften es zunächst nur sehr wenige in die Flugzeuge Richtung Usbekistan. Spezielle Helikopter sollen die Möglichkeiten nun erweitern.
Die Evakuierung von Menschen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die Bundeswehr ist inmitten chaotischer Verhältnisse am Flughafen ins Stocken geraten. Zwei am Samstag gestartete deutsche Flieger konnten nur sieben beziehungsweise acht Personen nach Usbekistan bringen, wie die Bundeswehr auf Twitter mitteilte. Bei einem späteren Bundeswehr-Transporter gingen dann wieder deutlich mehr Schutzbedürftige an Bord - er flog 205 Menschen aus dem von den militant-islamistischen Taliban eroberten Land aus.
Der nächste Flieger am Abend hob allerdings mit gerade 20 Menschen ab. Die Lage in Kabul gestalte sich weiterhin schwierig, so die Bundeswehr. "Wir nehmen jeden zu Schützenden mit, der am Flugzeug ist", erklärte das Verteidigungsministerium am Vormittag. Große Probleme gab es bei den Zugängen zum Flughafen, an dem sich weiterhin dramatische Szenen abspielen. Ein Augenzeuge berichtete der Deutschen Presse-Agentur, dass dort Tausende Menschen ausharrten. Das Auswärtige Amt twitterte: "Sicherheitslage am Flughafen in Kabul ist weiterhin äußerst gefährlich, Zugang zum Flughafen häufig nicht möglich." Später hieß es vom Außenamt, die Tore würden kurzfristig geöffnet und geschlossen. "Situation bleibt gefährlich & volatil."
US-Generalmajor William Taylor sagte allerdings am Samstag im Pentagon, Eingangstore seien in den vergangenen 24 Stunden nur kurzfristig geschlossen worden, damit "die richtigen Leute" hätten passieren können. Die US-Streitkräfte hätten in den vorangegangenen 24 Stunden insgesamt rund 3800 Menschen evakuiert. Seit Beginn der Evakuierungsmission in Afghanistan vor einer Woche hätten die US-Militärs insgesamt 17.000 Menschen aus Kabul ausgeflogen. Weiter sagte Taylor: "Es wurde keine Änderung der aktuellen Feindlage in und um den Flughafen gemeldet."
Botschaften raten, Flughafen zu meiden
Die deutsche und die amerikanische Botschaft in Kabul rieten ihren Staatsbürgern von Versuchen ab, den Flughafen zu erreichen. "Derzeit ist es grundsätzlich sicherer, zu Hause oder an einem geschützten Ort zu bleiben", schrieb die deutsche Botschaft an Landsleute. Die US-Botschaft rief amerikanische Staatsbürger dazu auf, den Flughafen aufgrund möglicher Sicherheitsbedrohungen zu meiden. Die afghanische zivile Luftfahrtbehörde machte deutlich, dass es weiter keine zivilen und kommerziellen Flüge geben werde. Kirby wollte sich auf Nachfrage nicht zu Sicherheitsbedrohungen äußern. Er verwies aber darauf, dass die Lage rund um den Flughafen nicht stabil sei und sich ständig ändere.
Ein weiterer Augenzeuge sagte der dpa, dass sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten am Flughafen Kabul befänden. Er habe Schauspieler in der Menge gesehen, bekannte Fernsehpersönlichkeiten, Jugendliche, Frauen mit neugeborenen Babys oder Menschen im Rollstuhl. Der US-Sender CNN berichtete unter Berufung auf eine "informierte Quelle", dass rund 14.000 Menschen am Flughafen seien.
Pentagon-Sprecher Kirby sagte, es gebe "eine geringe Anzahl" von Amerikanern, die auf dem Weg zum Flughafen in den vergangenen Tagen von Taliban drangsaliert oder geschlagen worden seien. Das gelte auch für afghanische Unterstützer des US-Einsatzes. Die meisten Amerikaner würden aber durch die Checkpoints der Taliban gelassen. Die Zuständigen bei den Taliban seien über die Zwischenfälle informiert worden. Die militanten Islamisten haben nach Darstellung der US-Regierung zugesagt, Amerikaner passieren zu lassen.
Bundeswehr-Hubschrauber in Kabul
Die Bundeswehr verlegte zwei Hubschrauber nach Kabul, um mehr Möglichkeiten bei den Evakuierungen zu haben. Die wendigen Helikopter kamen am Samstagmorgen in Kabul an und sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums einsatzbereit. Es sei geplant, damit in Kabul "kleinere Gruppen zu Evakuierender im Stadtgebiet aufzunehmen und sicher zum Flughafen zu transportieren", teilte die Bundeswehr mit. Informationen über konkrete Einsätze gab es zunächst nicht. Die Hubschrauber können nach Angaben von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) nur in Abstimmung mit den Amerikanern und den anderen Partnerstaaten vor Ort eingesetzt werden.
Taliban-Vizechef in der Hauptstadt
Seit Samstag soll zudem der Vizechef der militant-islamistischen Taliban in Kabul sein, sagten Taliban-Kreise der Deutschen Presse-Agentur. Mullah Abdul Ghani Baradar wolle mit Taliban-Mitgliedern und weiteren Politikern über die Bildung einer neuen Regierung sprechen, hieß es weiter. Baradar wäre der bislang höchstrangige Taliban-Führer, der in Kabul eingetroffen ist. Bilder von ihm in der Stadt gab es allerdings auch am Abend (Ortszeit) noch nicht. Wo sich Taliban-Führer Haibatullah Achundsada und seine zwei weiteren Stellvertreter befinden, ist unklar.
Vor knapp einer Woche hatten die Taliban Kabul erobert und die Macht übernommen. Seitdem fürchten Oppositionelle, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und auch Ortskräfte, die für westliche Staaten tätig waren, Racheaktionen an sich. Es ist weitgehend unklar, wie die Islamisten dieses Mal herrschen werden. Es wird befürchtet, dass die Extremisten wieder ein islamisches "Emirat" errichten wollen und dabei mit drakonischen Strafen gegen Andersdenkende vorgehen.
Kampf gegen die Zeit
Die Bundeswehr hatte Anfang der Woche ihre Evakuierungsaktion für Deutsche und afghanische Ortskräfte gestartet, bis Samstagnachmittag brachte sie nach eigenen Angaben rund 1900 Menschen in die usbekische Hauptstadt Taschkent. Von dort aus werden die Evakuierten weiter nach Deutschland gebracht.
Kramp-Karrenbauer sicherte zu, dass die Bundeswehr die Evakuierung unter Hochdruck fortsetzen werde. "Die Situation ist schwierig, aber wir werden mit den Möglichkeiten und allem, was sich vor Ort ergibt, weiter dranbleiben, so viele wie möglich herauszuholen", sagte Kramp-Karrenbauer am Samstag in Berlin. Pentagon-Sprecher Kirby sagte: "Wir wissen, dass wir sowohl gegen die Zeit als auch gegen den Raum kämpfen. Das ist das Rennen, in dem wir uns gerade befinden."
Verhandlungen mit den Taliban
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestätigte, dass mit den Taliban gesprochen werde, um die Evakuierungen zu erleichtern. Die Verhandlungen bedeuteten aber keineswegs eine Anerkennung der neuen Regierung, betonte die CDU-Politikerin bei einem Besuch in Spanien. Sie stellte zudem eine Erhöhung der humanitären Hilfe der Europäischen Union in Aussicht. Es werde allerdings keine Mittel für die Taliban geben, wenn diese nicht die Menschenrechte respektieren sollten, sagte von der Leyen bezüglich der Entwicklungsgelder in Höhe von einer Milliarde Euro, die für Afghanistan für die nächsten sieben Jahre vorgesehen sind.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach den Bundeswehrsoldaten in Afghanistan für den Einsatz zur Rettung von Deutschen und Ortskräften ihren "tiefen Dank" aus. Sie bezeichnete die Entwicklung in Afghanistan mit der Machtübernahme der Taliban als "Drama" und "Tragödie". "Wir wollten möglichst vielen Menschen in Afghanistan ein freies, ein gutes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen", sagte Merkel. "Und da müssen wir einfach sagen: Das ist so nicht gelungen."
Die Opposition im Bundestag wirft der Regierung vor, die Ausreise der afghanischen Helfer von Bundeswehr und Bundesregierung verschleppt zu haben. Grünen-Chef Robert Habeck sagte am Samstag in Dortmund: "Es ist nicht richtig, was aus der Bundesregierung gesagt wird, dass keiner wissen konnte, dass die Lage so eskaliert." Auch Unionskanzlerkandidat Armin Laschet warf Außenminister Heiko Maas (SPD) Versagen vor. Der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" sagte der CDU-Politiker: "Seit April hätte sich das Auswärtige Amt besser um unsere Ortskräfte kümmern können und müssen."
Kramp-Karrenbauer räumte eine massive Fehleinschätzung der Bundesregierung angesichts des Vormarschs der Taliban ein: "Unsere Lageeinschätzung war falsch, unsere Annahmen über die Fähigkeiten und die Bereitschaft zum afghanischen Widerstand gegen die Taliban zu optimistisch", schrieb Kramp-Karrenbauer in einem der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Brief an Abgeordnete des Bundestags. Zuerst hatte der "Spiegel" darüber berichtet.
Das Zeitfenster für weitere Evakuierungen aus Kabul wird immer kleiner. Die USA wollen eigentlich zum 31. August den Abzug ihrer Truppen abschließen. Eine Fortführung des Evakuierungseinsatzes ohne die USA gilt als ausgeschlossen.