Erster Prozess im Fall Ischgl

Witwe fordert 100.000 Euro Schadensersatz


Ein Ortsschild steht am Ausgang der Ortschaft Ischgl. Foto: Jakob Gruber/APA/dpa/Archivbild

Ein Ortsschild steht am Ausgang der Ortschaft Ischgl. Foto: Jakob Gruber/APA/dpa/Archivbild

Von mit Material der dpa

Tausende von Corona-Fällen der ersten Welle sollen ihren Ursprung im österreichischen Skiort Ischgl gehabt haben. Nun klagen Hinterbliebene von Corona-Toten gegen die Republik Österreich.

"Diese Gebiete werden ab sofort isoliert." Der schlanke Satz von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer Pressekonferenz zur Ausbreitung des Coronavirus am 13. März 2020 schlug ein. Viele Touristen in den Tiroler Skiorten Ischgl, Galtür oder St. Anton am Arlberg - diese Gebiete waren gemeint - hörten die Nachricht noch beim Skifahren und wollten durch sofortige Abreise einer möglichen Quarantäne entkommen. Unter chaotischen Bedingungen fuhren Infizierte heim und trugen so zur europaweiten Verbreitung des Virus bei. Ein österreichischer Journalist nahm den Bus zum Bahnhof. Es wurde wegen Staus eine gefährlich lange Fahrt. Kurz darauf ist er an Covid-19 gestorben.

Am 17. September beginnt mit der Klage der Witwe und ihres Sohnes auf 100 000 Euro Schadensersatz das erste von vielen Verfahren auch deutscher Kläger gegen die Republik Österreich. Die sogenannte Amtshaftungsklage sieht ein Versagen der Behörden, die zu spät vor dem Virus gewarnt und zu spät gehandelt hätten. "Ich schätze, dass letztlich bis zu 3000 Ansprüche an die Republik gestellt werden", sagt Peter Kolba vom Verbraucherschutzverein (VSV) in Wien, der die Kläger betreut. Der VSV hat vor, Sammelklagen einzubringen. Am Freitag werde sich die Frage stellen, ob diese Zahl an Ansprüchen nicht besser in Vergleichsverhandlungen gelöst werden sollten.

Der VSV hat auch beantragt, den Kanzler, den Innenminister Karl Nehammer, den damaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober sowie Vizekanzler Werner Kogler als Zeugen zu laden. "Kurz ist ein zentraler Zeuge", sagt Kolba. Er könne darüber aussagen, wie die Absprachen zwischen Land Tirol und dem Bund in Wien über die geplante Ausreise gelaufen seien. Aus Sicht des VSV ist Kurz mit seiner Pressekonferenz vorgeprescht, bevor die Vorbereitungen in Ischgl für eine geordnete Abreise abgeschlossen waren. "Mehr als 10 000 Menschen haben das Tal verlassen, aber nur in 2600 Fällen erfolgte ein Kontakt-Tracing mit Hilfe von Gäste-Ausreiseformularen", so Kolba.

"In Ischgl wurden Fehler gemacht"

Der Bericht einer unabhängigen Expertenkommission hält dazu fest: "Diese Ankündigung (Anm.: des Kanzlers) führte bei den Gästen und Mitarbeitern zu Panikreaktionen, die nach den Angaben der Auskunftspersonen, die bei der überstürzten Abreise gegenwärtig waren, von ihnen so noch nie erlebt worden sind." Die Chance, das gesamte Wochenende gestaffelt für die Abreise zu nutzen, sei nicht wahrgenommen worden. In Ischgl seien Fehler gemacht worden, aber es sei kein generelles Versagen festzustellen, hieß es in dem vor einem Jahr präsentierten Bericht.

Die österreichische Finanzprokuratur, die die rechtlichen Interessen des Staates vor Gericht vertritt, hat stets betont, alles sei richtig gemacht worden. Bei der Debatte über Fehler der Behörden spielt auch der Hinweis eine Rolle, dass das Wissen über das Virus am Beginn der ersten europaweiten Welle lange nicht so gründlich war wie heute. Das lässt Kolba nicht gelten. "Unser stärkstes Argument ist, dass man eine Woche früher den Skibetrieb hätte schließen müssen", sagt er mit Verweis auf damals erste Infektionsfälle unter Ischgl-Touristen Anfang März.

Ischgls Partyszene, seine vielen Après-Skibars, das von Alkohol enthemmte Feiern - diese Bilder spiegeln nur einen Teil des Skiorts wider. Aber sie trugen dazu bei, dass Ischgl zeitweise als Synonym für ein Verdrängen von Corona-Gefahren galt. Der Ort und die Landesregierung haben die Konsequenzen daraus gezogen. Ein Feiern wie früher werde es in diesen Zeiten nicht mehr geben, hieß es mehrfach. In der kommenden Wintersaison sollen nach den Plänen von Tourismusministerin Elisabeth Köstinger strenge Zugangsregeln speziell beim Après-Ski gelten.

Davon hat Dörte Sittig aus der Nähe von Köln wenig. Ihr Lebensgefährte starb nach einem Ischgl-Urlaub mit 52 Jahren an Corona. Vor ihrem eigenen Gerichtstermin will sie am Freitag den ersten Prozess mitverfolgen. Dem Kölner "Express" sagte sie einmal: "Die haben meinen Mann ins Messer laufen lassen." Der Betrieb im Ort sei von den Behörden nicht rechtzeitig geschlossen worden. Viele andere Gemeinden hätten dagegen reagiert.