Leitartikel
Flüchtlingswahlen
11. März 2016, 18:45 Uhr aktualisiert am 11. März 2016, 18:45 Uhr
An diesem Sonntag könnte sie die strahlende Siegerin und krachende Verliererin zugleich sein. Soweit es die Umfragen kurz vor den drei Landtagswahlen hergeben, könnten jene Kräfte, die den Flüchtlingskurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützen, an die zwei Drittel der Stimmen holen. Gleichzeitig könnte ihre CDU in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz schwere Schlappen einfahren.
Dieser groteske Umstand ist weniger der Begeisterung für die Flüchtlingspolitik der CDU-Chefin geschuldet als vielmehr einer Konstellation, in der die politische Konkurrenz Merkels Kurs mehr stützt als die eigene Partei. Winfried Kretschmann, grüner Regierungschef im Ländle, bekannte sogar, für Merkel zu beten, wohingegen CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf nach anfänglicher Begeisterung von der Kanzlerin abrückte, um dann auf der Schlussgeraden wieder sein Herz für die Politik seiner Parteivorsitzenden zu erwärmen. Ähnlich in Rheinland-Pfalz, wo CDU-Frau Julia Klöckner einen Plan A2 entwickelte, um Merkel in der Flüchtlingspolitik zum Umdenken zu bewegen. Ihr Vorsprung vor Amtsinhaberin Malu Dreyer (SPD) ist dahin - für die CDU bleibt wohl auch hier nur der undankbare zweite Platz. Regierungsbeteiligung fraglich - jedenfalls in Mainz. In Stuttgart könnte die CDU Kretschmanns Juniorpartner werden, da die SPD dort einem regelrechten Waterloo entgegensieht. Für Grün-Rot wird es offenbar eng. Dafür könnte die rechtskonservative AfD zur drittstärksten Kraft werden - in Sachsen-Anhalt könnte sie womöglich sogar die SPD überflügeln. Klar ist, bei den Wahlen am Sonntag geht es weniger darum, welchen politischen Weg die drei Länder in Zukunft nehmen werden. Sie sind vielmehr eine erste Abstimmung über die Flüchtlingspolitik, über den Kurs der Kanzlerin und über die Zukunft Europas.
Viele Länder tun das Gegenteil, was Merkel für richtig hält: Das verschafft ihr Zeit
Grotesk an der Situation ist aber auch, dass ausgerechnet die bei der Kanzlerin so ungeliebten nationalen Maßnahmen die Flüchtlingszahlen in den vergangenen Tagen praktisch auf null gedrückt haben. Und: Die von Merkel so sehr propagierten europäischen und internationalen Lösungen könnten ebenfalls bald Wirkung entfalten - indem sich Europa der Türkei praktisch ausliefert. Die Reduzierung der Flüchtlingszahlen ist also gelungen - das verschafft der Kanzlerin Zeit -, weil viele Länder derzeit das Gegenteil von dem tun, was Merkel für richtig hält und die Balkanroute geschlossen halten. Deutschland hat sich praktisch nicht bewegt und dennoch sind die Flüchtlingszahlen zurückgegangen. Nur wie lange das alles halten wird, ist offen. Jederzeit könnten die Balkanstaaten ihre Politik überdenken und wieder Zigtausende Flüchtlinge Richtung Deutschland durchschleusen. Daher auch der versuchte Deal mit Ankara zur Rücknahme von Flüchtlingen. Wenn dieser gelingen sollte, wäre diese Gefahr ebenfalls gebannt, die nationalen Grenzkontrollen könnten wieder fallen - Schengen wäre gerettet und Merkel hätte ihr Ziel erreicht. Aber zu welchem Preis?
Verzweiflung pur in Berlin
"Wir haben zum ersten Mal die konkrete Chance, die Flüchtlingskrise zu lösen, ohne unsere humanitären Ansprüche aufzugeben", sagt Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung Peter Altmaier (CDU) im Interview mit der Welt. Ach so? Nun, sicher ist die Türkei demokratischer und rechtsstaatlicher als andere Länder in der Region, wie Altmaier sagt. Richtig ist auch, dass sich die Türkei in der Flüchtlingskrise europäischer verhalten hat als einige EU-Partner. Irgendwie stimmt es schon, was Altmaier da sagt. Aber es bleibt ein flaues Gefühl zurück, zeigen seine Aussagen doch ebenso, wie verzweifelt das politische Berlin derzeit sein muss. Auch hier mutet es grotesk an, wie sehr Europa und auch Deutschland - das sich sonst in seiner Rolle als moralische Führungsnation gefällt - plötzlich zu Zugeständnissen bereit sind, die bisher als völlig undenkbar galten.
Ankara will illegal eingereiste Flüchtlinge zurücknehmen, dafür je einen syrischen Flüchtling auf legalem Weg in Richtung Europa schicken. Damit soll es gelingen, den Schleusern das Geschäft zu verderben. Wer dann noch illegal in Europa einreist, landet postwendend wieder in der Türkei - erleichtert um den Betrag, den die Schleuser kassiert haben. So weit, so gut.
Unabhängig davon, wie dieses System praktisch umgesetzt werden soll, stellt sich die Frage, wie sehr die EU gewillt ist, der Türkei entgegenzukommen. Visaerleichterungen, EU-Beitritt, Milliardenzahlungen - die Türkei weiß die Abhängigkeit Europas zu nutzen.
Der EU-Beitritt der Türkei und seine Gefahren
Nun geht es nicht darum, die Türkei zu verdammen - auch Europa kann sich seine Partner in der Welt nicht immer aussuchen. Gegen Verhandlungen oder auch Abkommen ist an sich nichts einzuwenden. Doch hat es Europa in den vergangenen Jahrzehnten versäumt, der Türkei reinen Wein einzuschenken und zu erklären, welche Perspektive es für eine Bindung oder Zusammenarbeit mit Europa gibt. Ein EU-Beitritt wäre für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sicher sein größter politischer Erfolg. Gerade er hat sein Land politisch eher von Europa entfernt und will die Türkei zunehmend als Regionalmacht etablieren. Das bedeutet auch, dass er sich um europäische Werte immer weniger schert. Krieg gegen Kurden, Repressalien gegenüber der Opposition, Einschränkung der Pressefreiheit - all dies schließt einen EU-Beitritt derzeit völlig aus. Ganz zu schweigen von der ungelösten Zypern-Frage. Das EU-Mitglied Zypern wird unter den derzeitigen Bedingungen einem Beitritt der Türkei niemals zustimmen.
An alledem zeigt sich, wie gefährlich und wenig zielführend es wäre, die Lösung der Flüchtlingskrise mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei zu verbinden. Weitere Beitrittskapitel will die Türkei in den Verhandlungen eröffnen. Da würde es dann auch um die Themen Justiz und Menschenrechte gehen. Ob das der Türkei recht sein kann? Und vor möglichen Visaerleichterungen müsste die Türkei nicht weniger als 72 Bedingungen erfüllen. Bis zum Sommer - dann sollen laut Ankara die neuen Regeln gelten - dürfte das kaum zu machen sein. Dennoch gefällt sich Erdogan in seiner Rolle. Europa hört auf sein Kommando. Die Türkei bleibt der Rettungsanker für ein Europa, das seine Bindekraft zunehmend verliert und unfähig ist, gemeinsame, solidarische Lösungen zu entwickeln. So grotesk diese Situation auch ist: Die Schwäche Europas macht Erdogan stark. Auch darüber, die Zukunft Europas in der Flüchtlingskrise, stimmen die Wähler in drei Ländern am Sonntag ab. Dass nun - ganz ohne deutsches Zutun - die Flüchtlingszahlen so zurückgegangen sind, könnte doch wiederum Auswirkungen auf den Wahlausgang haben. Vielleicht fallen die Verluste für die Regierungsparteien doch weniger schlimm aus, als es derzeit den Anschein hat und womöglich fallen die AfD-Gewinne bescheidener aus als befürchtet - und der Wahltag verläuft am Ende doch weniger grotesk als angenommen.