Kultur
Nah am Wasser
2. Februar 2023, 16:38 Uhr aktualisiert am 3. Februar 2023, 11:21 Uhr
Theater und Tränen sind ziemlich flüchtige Angelegenheiten. Inszenierungen auf der Bühne kann man zumindest per Videoaufnahme ansatzweise für die Nachwelt festhalten. Und was wäre, wenn Tränen sich archivieren ließen? Davon erzählt, ja, träumt das Stück "Archiv der Tränen", das die österreichische Dramatikerin Magdalena Schrefel im Auftrag des Residenztheaters geschrieben hat. Hausregisseurin Elsa-Sophie Jach bringt das Werk nun mit sechs Ensemblemitgliedern im Marstall zur Uraufführung.
AZ: Frau Jach, wann haben Sie das letzte Mal geweint?
ELSA-SOPHIE JACH: Auf dem Weg zur Probe. Ein Polizeiauto ist neben mir durch eine Pfütze gerast und hat mich von oben bis unten nassgespritzt. Der Tag war sowieso schon stressig. Da sind mir kurz die Tränen in die Augen geschossen.
Aus Frust.
Aus Überforderung. Und Wut, weil sie einfach weiter gefahren sind.
In Magdalena Schrefels Stück gibt es mehrere Arten von Tränen - die einer todkranken Frau, eines einsamen Postboten, eines getrennten Paars -, die direkt auf der Bühne geweint werden oder von denen erzählt wird. Was soll mit dieser Tränensammlung ausgedrückt werden?
Ich denke, es geht in dem Stück vor allem um Verlust und Trauer und den gesellschaftlichen Umgang damit. Der individuelle Vorgang des Trauerns findet ja in der Regel im Privaten statt: Man zieht sich zurück, um erst dann in die Öffentlichkeit zurückzukehren, wenn man sich wieder leistungsfähig fühlt. Was heißt das aber für eine Gesellschaft, in der derzeit der Tod durch Kriege und die Corona-Pandemie wieder verstärkt präsent ist, wenn die Trauer unsichtbar bleibt? Auf der individuellen Ebene stellt sich die Frage, was das eigentlich heißt: zu weinen. Die Träne ist ja insofern ein einzigartiges Phänomen, weil durch sie eine Emotion äußerlich manifest wird. Während Gefühle sonst innere Vorgänge bleiben oder bei Bedarf sprachlich dem Umfeld kommuniziert werden, wird durch die Träne eine körperliche Grenze überschritten. Diesen Vorgang kann man im Theater auf spielerische Weise untersuchen.
Wobei Tränen wohl eher im Kino fließen. Es gibt das berühmte Kafka-Zitat "Im Kino gewesen. Geweint". Im Theaterbereich gilt eher das Brecht-Diktum: "Glotzt nicht so romantisch!"
Ursprünglich, in der griechischen Tragödie sollte das Theater aber Katharsis auslösen, Jammern und Schaudern, also ein starkes emotionales Erlebnis mit affektreinigender Wirkung, bei dem lange Zeit, wie später dann im Kino, das vollkommen ungebrochene Eintauchen in eine Geschichte das Ziel war.
Was heute nicht mehr so ist.
Ja, die heutige Debatte um das Theater dreht sich auch darum, dass die Sprecherposition selten ungebrochen bleibt, sondern meist mitreflektiert wird. Diese Frage, wer überhaupt spricht, ist auf den Bühnen mittlerweile stark präsent und unbedingt notwendig. Aber gerade darin finde ich Theater immer wieder sehr emotional und berührend. Im "Archiv der Tränen" geht es jetzt genau um diesen bereits gebrochenen Versuch der Einfühlung: dass probiert wird, die Tränen anderer zu erzählen und erfahrbar zu machen und gleichzeitig kritisch zu untersuchen, was es bedeutet, die Geschichten Anderer zu erzählen, in den Schmerz eines Menschen oder einer Figur hineinzuhorchen.
Diese Tränen werden von einer Archivarin präpariert, geordnet und aufbewahrt. Dabei fängt sie die Tränen selten direkt auf, sondern extrahiert sie aus Taschentüchern, Briefen, Fotos, Beichten, Sprachnachrichten. Es gibt gar eine Tränenzentrifuge. Wie lässt sich das auf der Bühne darstellen?
Wir haben natürlich alles Mögliche ausprobiert: Spielt man das im luftleeren Raum oder nimmt man genau die Bilder, die das Stück vorgibt, oder übersetzt man sie in etwas Eigenes? Ich würde sagen, wir haben versucht, ein adäquates, eigenes archivarisches System zu finden, in dem auch die chemischen Prozesse, die im Stück beschrieben werden, anschaulich gezeigt werden.
So realistisch die Geschichten sind, die im Archiv erzählt werden, so märchenhaft wirkt das Ganze.
Für mich ist es eine stark surreale Geschichte, ein bisschen in der Tradition von Beckett. Die Archivarin und ihr neuer Mitarbeiter Fiume bilden ein Duo, das ein wenig an das aus "Warten auf Godot" erinnert. Im Archiv kommen einige Menschen vorbei, es kommt zu Begegnungen, aber zunächst kommt niemand so richtig vom Fleck. Das hat durchaus etwas Märchen- und manchmal auch Albtraumhaftes.
Die Archivarin schläft nie, existiert im zeitlosen Raum des Archivs. Ist sie eine mythische Figur?
Ich empfinde sie nicht als übernatürlich, sondern als Liebhaberin des Kleinsten und Allerkleinsten, was ihr auch etwas Wissenschaftliches gibt. Sie hat etwas von einer österreichischen Beamtin. Mit Magdalena Schrefel haben wir auch über das Naturhistorische Museum in Wien gesprochen. Dort finden sich Leute, die sich manisch in ein Thema hineinfuchsen können. Während sie sich mit den spannendsten, emotionalsten Dingen beschäftigen, bleiben sie dabei selbst ganz nüchtern und präzise. Die Archivarin hat außerdem die Fähigkeit, sinnvolle Konfrontationen herzustellen. Sie zeigt den Archivgästen bestimmte Tränen, mit denen diese selbst in irgendeiner Weise etwas zu tun haben.
Vielleicht ist sie eine Therapeutin.
Vielleicht, auf eine gewisse Weise. Sie ist auch eine Entertainerin, zaubert ihre eigene kleine Show. Die Tränen bekommen manchmal eine poetische, musikalische Form. Da sehe ich sie wie eine Dirigentin, die in einer Symphonie der Tränen etwas hörbar macht, was sonst nicht gehört wird in der Welt.
Die Bandbreite der erzählten Tränen ist sehr groß. Magdalena Schrefel thematisiert die Pandemie, den Ukraine-Krieg, den Klimawandel. Ist es nicht schwer, das alles unter einen Hut zu bekommen?
Auf jeden Fall. Die Archivarin selbst sagt, dass ein Archiv nur mit Lücken vollständig ist. Das heißt, es kann nie eine komplette Bestandsaufnahme geben, sondern es können immer nur einzelne Momente herausgegriffen werden. Gleichzeitig möchte man möglichst viele Facetten zeigen - die individuellen Erlebnisse, aber auch den großen historischen Zusammenhang, in dem sie sich ereignen. Es ist eine der Qualitäten des Stücks, dass es diese Suchbewegung gut spürbar macht. Das Suchen in diesem riesigen Archiv führt dazu, dass man einigen Geschichten begegnet, aber nie alles ganz zu fassen bekommt.
Erlauben Sie sich bei einer Uraufführung Lücken und Veränderungen?
Unser Dramaturg Ewald Palmetshofer und ich waren ständig im Kontakt mit der Autorin, haben die verschiedenen Fassungen gelesen und darüber mit ihr gesprochen. Insofern haben wir die Entstehung des Stücks konstant begleitet und fühlen uns mit ihm stark verbunden. Magdalena hat uns selbst dazu eingeladen, ihr Stück als Material zu nehmen, das wir umschichten und neu sortieren sollen. Insofern haben wir selbst archivarische Arbeit geleistet, haben bei den Proben nach Spuren im Stück gesucht und uns überlegt, wie wir die einzelnen Geschichten zusammenfügen und erfahrbar machen können.
Musik hat in Ihren Inszenierungen bislang eine große Rolle gespielt. Hier gibt es ein "Tränenklavier"…
…das man hört, aber nicht sieht. Wir haben uns in diesem Fall gegen Live-Musik entschieden, sondern für das Einspielen archivierter Aufnahmen in diversen Formaten, von Kassetten bis hin zu Schallplatten.
Spielt Ihre Musikerin Anna Bauer auch Tränensongs ein? So etwas wie "Tränen lügen nicht"?
Ein berühmter Tränensong hat es in die Inszenierung geschafft. Aber das muss man schon selbst hören.
Premiere am 3. Februar, 20 Uhr, im Marstall, ausverkauft. Für die zweite Vorstellung am Sonntag, 19 Uhr, gibt es noch Restkarten