Kultur
Gleichmäßiger Fluss des Seins
5. Februar 2023, 16:29 Uhr aktualisiert am 6. Februar 2023, 13:42 Uhr
Ob Bienen oder Wespen, Forellen oder Libellen, Braunbären oder Grizzlybären, Hasen oder Häschen, Quallen oder Molluske: "Alle Arten des Lebens, wirklich alle, die in diesem Moment auf dieser Erde leben, die hier gelebt haben und noch leben werden, kommen aus dem Wasser". Hört man diesen Monolog über den Stoff, der jeden nicht nur erhält, sondern alles zusammenhält, könnte das im allerersten Klimaaktivisten-Drama stehen.
Aber die Sprecherin ist einfach nur begeistert von ihrem Beruf und einer sehr speziell gewonnenen Form von Salzwasser. Sie leitet das "Archiv der Tränen", das Magdalena Schrefel erfand. Die österreichische Autorin geht gerade ihren Weg nach oben, wurde 2020 mit dem Kleist-Förderpreis für das Stück "Ein Berg, viele" und zuletzt mit dem Robert-Walser-Preis für den Erzählungsband "Brauchbare Menschen" ausgezeichnet. Ihre sehr erstaunliche, weil sowohl poetisch fantastische als auch letztlich politische Tränen-Dokumentationsstelle ist jetzt als Uraufführung im Marstall zu besuchen.
Dort finden sich tatsächlich Kunden ein, die etwas suchen. Tanja (Isabell Antonia Höckel) und ihr Ex Aleks (Thomas Reisinger) suchen nach ihrer verloren gegangenen Liebe oder Vera (Evelyn Gugolz) nach "unerlösten Tränen" der Geschichte aus Krieg und Sklaverei, findet jedoch auch ihre eigenen Tränen nach dem Tod der Schwester. Und jeder, der hier fündig wird, hinterlässt neue Tränen als emotionale Folge der Recherche. Das Archiv der Tränen ist ein Ort ohne Zeit, denn alles ist wohlgeordnet, gleichgültig wann von wem und ob aus Freude, Schmerz oder Trauer geweint.
Der von ihrer Mission beseelten Archivarin (Pia Händler), die ihr Institut anpreist wie ein Zirkusdirektor seine Attraktionen, und ihrem sanften Assistenten Fiume (Pujan Sadri) wird jeder Tropfen Körperflüssigkeit zum pipettentauglichen Präparat, das nach Extraktion, Destillation oder Zentrifugieren katalogisiert und einsortiert wird.
Tanja beschreibt, was sie hier sieht: "Die Regale gehen hoch bis an die Decke, nach hinten sind sie geschlossen wie ein riesiger, überdimensionierter Setzkasten". Genau den entwarf Bühnenbildnerin Aleksandra Pavlović nicht. Sie und Regisseurin Elsa-Sophie Jach suchten einen weniger konkreten Ort und fanden eine Spiellandschaft in Pastellgelb mit bübchenblauen Applikationen und einer Art kreisrunde Labor, das an ein Spiegelkabinett erinnert. Denn für dramatische Entwicklungen scheint die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit aller Ereignisse eines Archivs zunächst nicht geeignet. Deshalb wirkt der Ausweg in das ebenfalls von jeder Zeit und jedem Ort enthobene kindliche Spiel, das für die Spielenden dennoch dramatisch geraten kann, plausibel.
Nur über der Szene dräut in altertümlichen, aber wechselnden Farben leuchtenden Buchstaben "Lacrimosa" ("Die Tränenreiche") geisterbahnhaft und zwischendurch erklingt der gleichnamige Teil aus Mozarts "Requiem". Doch Jach gelingt eine tänzerisch und musikalisch belebte Leichtigkeit, mit der sich sogar erkenntnissatte Sätze wie "Unsere Gegenwart, die ist ja eigentlich nichts anderes als der Punkt, an dem sich zwei Ewigkeiten überlagern" wie von selbst über die Lippen gehen lassen.
Es gibt eine kurze Phase der Konfrontation über das Sortieren und das Schaffen von Bezügen, deren Erregtheit etwas unklar bleibt und sich in lauter Deklamation und undurchdringlich werdendem Bühnennebel auflöst.
Das Publikum des Premierenabends zeigte sich von dem gleichmäßgen Fließen des Seins, von dem hier das Theater erzählen kann, schließlich beeindruckt, spendete lang anhaltenden Beifall und war vermutlich dankbar, in Zeiten der multiplen Krise nicht zu Tränen der Rührung oder gar zu Lachtränen getrieben worden zu sein.
Marstall, wieder am 16. Februar, 5., 29., 31. März, 20 Uhr, sonntags 19 Uhr, Telefon 21851940