Kultur

Inspiration in Tunis

Daniel Speck über sein Romanprojekt und die Spurensuche in Tunesien


Das maurische Café des Nattes in Sidi Bou Said bei Tunis malte schon August Macke, als er 1914 mit Paul Klee und Louis Moilliet die berühmt gewordene Reise nach Tunesien antrat.

Das maurische Café des Nattes in Sidi Bou Said bei Tunis malte schon August Macke, als er 1914 mit Paul Klee und Louis Moilliet die berühmt gewordene Reise nach Tunesien antrat.

Von Volker Isfort

Piccola Sicilia ist ein Stadtviertel der tunesischen Hauptstadt Tunis. Vor dem Zweiten Weltkrieg war dies lange Zeit ein buntgemischtes Einwanderungsviertel. Der Münchner Autor Daniel Speck hat hier Inspiration für seinen unbedingt empfehlenswerten Geschichtsroman "Piccola Sicilia" und die Fortsetzung "Jaffa Road" gefunden und sich für dieses Projekt häufig auf Spurensuche nach Tunesien begeben. Ein Gespräch mit dem Autor in Tunis.

AZ: Herr Speck, Sie haben mit "Piccola Sicilia" und "Jaffa Road" ein großes Romanprojekt über den Zweiten Weltkrieg in Nordafrika und den Nahostkonflikt geschrieben. Wie kam es dazu?

DANIEL SPECK: Nach dem Erfolg von "Bella Germania" wäre es naheliegend gewesen, wieder über Italien zu schreiben, aber ich wollte mich nicht wiederholen. Ich hatte schon länger eine Geschichte im Hinterkopf, die ich in Sachbüchern entdeckt hatte, nämlich, wie im Zweiten Weltkrieg Muslime Juden gerettet haben. Und so bin ich auf das jüdisch-muslimische Miteinander in den arabischen Ländern gestoßen. Ich wollte über eine Zeit schreiben, als die Verhältnisse zwischen den Religionen anders waren als heute. Und ich wollte dahin gehen, wo es wehtut: eine Geschichte, die während des Zweiten Weltkriegs passiert.

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Daniel Speck (links) im Gespräch mit Karim Bey, Direktor des Hotels Majestic, das eine wichtige Rolle in Specks Roman "Piccola Sicila" spielt.

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Das Hotel Majestic in Tunis.

So landeten Sie in Tunesien zur Zeit der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht. Haben Sie den Ort gewählt, weil Sie einen tunesischen Vater haben?

Nein. Mein Vater, den ich nie kennengelernt habe, kommt zwar aus Tunesien; das war aber nicht meine Motivation für den Roman. Tunesien war einfach der Kampfschauplatz, als Brückenkopf der Alliierten nach Sizilien. Seltsamerweise ist das bei uns geschichtlich in den Hintergrund gerückt, obwohl das die Landung war, die zum ersten Mal die alliierten Truppen nach Europa gebracht hat. Ich selbst bin mit Anfang 20 nach Tunesien gefahren, um meinen Vater zu suchen. Aber er und mein Großvater waren ein paar Monate vorher gestorben; ich kam zu spät. Das ist eine eigene Geschichte, die mit "Piccola Sicilia" nichts zu tun hat. Im Roman schreibe ich über eine italienisch-jüdische Familie in Tunis, nicht über meine Vorfahren.

Was bedeutet Ihnen Tunesien?

Es ist ein kleines Land mit großem Herz. Durch seine zentrale Lage im Mittelmeer ist Tunesien ein Mosaik der Kulturen. Die Weltoffenheit, Großzügigkeit und Gastfreundschaft liegt in der DNA der Menschen. Das drückt sich auch in der vielfältigen Küche aus, von der ich in "Terra Mediterranea" erzähle: Bei einem tunesischen Abendessen kann man rund ums Mittelmeer reisen. Es ist allerdings unmöglich, schlank zurück zu kommen.

In Deutschland hielten viele Sie nach "Bella Germania" für einen Italiener.

Ich bin in München geboren und mit einer deutschen Mutter aufgewachsen, aber ich spreche italienisch, weil ich in Rom studiert habe. Zu unserer Familie gehören Menschen mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten; mein Großvater zum Beispiel stammt aus Oberschlesien. Ethnische Zugehörigkeit ist für mich kein entscheidender Charakterzug. Ich identifiziere mich nicht mit meiner "Identität". An erster Stelle bin ich Autor; das heißt, ich verbringe meine Zeit damit, mich in verschiedene Identitäten hineinzuversetzen - ein anderes Geschlecht, ein anderes Alter, eine andere Schicht, eine andere Nationalität, ein anderer Beruf. Ich bin Autor geworden, weil ich neugierig auf Menschen in ihrer Vielfalt und ihren Widersprüchen bin. Beim Schreiben betreibe ich keine Nabelschau, sondern mache Urlaub von mir selbst.

Der Protagonist der beiden Romane ist ein Wehrmachtssoldat, der seine Identität wechselt.

Bei meinen Recherchen über das multikulturelle Zusammenleben der Menschen in Tunis im Zweiten Weltkrieg stieß ich auf einen deutschen Soldaten, der in Tunesien fünf Juden aus deutscher Gefangenschaft befreit hatte. Und später von der Familie des Geretteten vor den Alliierten versteckt wurde. Über die Geschichte von diesem Richard Abel gab es außerhalb von der Erwähnung in Sachbüchern keinen Spielfilm und keinen Roman. Da dachte ich, dass diese Geschichte von mir erzählt werden will. So kam ich zum Hotel Majestic, dem damaligen Hauptquartier der Wehrmacht in Tunis. Der jetzige Direktor Karim Bey hat mir Anekdoten erzählt, die man in keinem Buch findet: Während der Bombardierung des Luxushotels durch die Alliierten verschanzten sich deutsche Soldaten auf dem jüdischen Friedhof, der hinter dem Haus lag. Und neben ihnen kauerte das Hotelpersonal - Muslime, Christen und Juden -, die statt Helmen Töpfe aus der Hotelküche trugen. Die Szene musste ich in meinen Roman einbauen.

Wie haben Sie das jüdische Leben in Piccola Sicilia recherchiert?

In Sachbüchern und Filmen, aber ich habe auch Zeitzeugen gefunden, die vom damaligen Leben in Piccola Sicilia geschwärmt haben. Der Koch Jacob Lellouche, den ich in "Terra Mediterranea" portraitiere, erzählte mir, dass in seiner Kindheit Worte wie "Integration" oder "Toleranz" nicht existierten. Man lebte eben als Nachbarn zusammen, und die verschiedenen Religionen waren in diesem mediterranen Mix selbstverständlich. Die Kultur der anderen lernte man bei den gemeinsamen Festen kennen - über das Essen. Jacob sagt, heute hätten die Menschen ihre Identität verloren, deshalb bauten sie sich falsche Identitäten. Ich glaube, da ist etwas dran, sonst wären Menschen nicht so anfällig für nationalistische Konstruktionen, die heute wieder Auftrieb erhalten.

Aber auch in Piccola Sicilia hatte das Zusammenleben seine Schattenseiten.

Ja. Multikulturalität war eingebettet in einen Kontext des Kolonialismus. Die Weißen hatten mehr Privilegien als die einheimische Bevölkerung. Auch zwischen den europäischen und den tunesischen Juden gab es eine soziale Grenze.

Was ist vom jüdischen Leben in Tunesien geblieben?

In der Medina von Tunis und auf Djerba gibt es noch jüdische Communities. Aber viele Juden haben das Land nach der tunesischen Unabhängigkeit 1956 verlassen. Der tunesische Nationalismus, der Zionismus und der Islamismus haben neue Bruchlinien zwischen Identitäten erzeugt.

Ihr Protagonist wagt in der Fortsetzung "Jaffa Road" einen Neustart in Palästina. Wie glaubhaft ist das?

Nach dem Weltkrieg gab es Millionen Vermisste. Moritz heiratet eine Jüdin und steigt mit falschem Pass auf einen Dampfer nach Haifa. Die britische Mandatsregierung hatte eine Einwanderungsquote festgelegt, aber nach der Shoah kamen mehr jüdische Flüchtlinge aus Europa. So fuhren viele Schiffe illegal nach Palästina. Und viele Migranten hatten ihre Dokumente verloren. Die chaotischen Zustände, als die Briten Palästina verließen und ein Krieg ausbrach, gab vielen Einwanderern die Chance auf eine neue Identität, einen neuen Namen, ein neues Leben.

Was haben Sie über den wahren Richard Abel herausgefunden?

Wenig über seine Persönlichkeit, aber das gab mir auch erzählerische Freiheit. Ich habe meinem Protagonisten die Rolle als Kriegsfotograf gegeben - jemand, der nicht schießt, sondern Beobachter ist. Ich fragte mich, ab wann ein Mensch vom Zuschauer zum Teil des Geschehens wird. Das ist der zentrale Moment des Romans, als Moritz sich entscheiden muss, wer er ist: ob er dem Unrecht zusieht oder aktiv eingreift - auch wenn er seine eigene Identität dafür opfern muss, weil er dann nicht mehr zurück kann in seine alte Haut. Nach dem Erscheinen des Buchs bekam ich Post aus Paris von einer Frau, die mir schrieb, sie sei die Tochter eines Juden, den Richard Abel gerettet hat. Sie hatte mein Buch von der Nichte von Abel erhalten. Wir drei haben dann zusammen ein Treffen in Stuttgart organisiert. Es war sehr berührend. Abel wollte wohl immer seine Geschichte aufschreiben, aber er war ein bescheidener Mensch und hat es nie getan. Er hat seiner eigenen Nichte erst spät davon erzählt, war aber in der jüdisch-französischen Familie bei allen Festen dabei, als eine Art Onkel.

Bücher ändern nicht die Welt, sehen Sie Ihre Romane dennoch als Mission?

Nein. Ich bin Erzähler, misstraue Ideologien und folge nur meinen Figuren. Ich will niemanden von etwas überzeugen, aber ich möchte Türen der Erinnerung öffnen und die Leser einladen, unsere Welt aus verschiedenen Perspektiven zu erleben. Wir laufen alle mit vorgefertigten Bildern durch die Welt. Die Kraft der Literatur liegt darin, dass sie Vorurteile hinterfragen und hinter die Kulissen schauen kann.

Daniel Speck: "Piccola Sicilia" und "Jaffa Road" (beide Fischer Verlag). In seinem Buch "Terra Mediterranea" (Fischer Verlag) reist Daniel Speck zu den Schauplätzen seiner Romane rund ums Mittelmeer und verbindet Lebensgeschichten mit Kochrezepten aus Sizilien, Tunis und Bethlehem.