Kultur

Im Alter immer jünger werden

Herbert Blomstedt und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Mendelssohnund Bruckner im Herkulessaal


Herbert Blomstedt und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal bei Bruckners Vierter.

Herbert Blomstedt und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal bei Bruckners Vierter.

Von Robert Braunmüller

Ein Musiker aus dem Orchester führt ihn herein, dann schlägt er dem 95-Jährigen die Partitur auf. Auf diese freundlich gemeinte Hilfsbereitschaft reagiert Herbert Blomstedt fast ein wenig schroff: Er schlägt die Noten umgehend wieder zu und rührt sie in der nächsten Stunde nicht an. Als wollte er sagen: Ich bin mittlerweile zwar schlecht zu Fuß, aber haltet mich bloß nicht für senil!

Blomstedt hat seinen Bruckner nicht nur perfekt im Kopf, er kann ihn im hohen Alter auch immer noch mit sparsamer Gestik ans Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks vermitteln. Das Tremolo am Beginn der Vierten setzt sehr direkt ein, ebenso das Hornsolo und die Holzbläser. Das Tutti des BR-Symphonieorchesters wirkte etwas ungeschliffen, bisweilen auch altdeutsch-sauer. Aber das bleibt ein ewiges Problem der Akustik des Herkulessaals bei großer Besetzung.

Leonidas Kavakos mit Herbert Blomstedt.

Leonidas Kavakos mit Herbert Blomstedt.

Blomstedt variiert zwar das Tempo, aber der Grundpuls bleibt drängend, ein Verweilen wird nicht gestattet. Wer greisenhafte Altersmystik oder Vorahnungen des Ewigen erwartete, wurde womöglich enttäuscht: Der älteste noch immer aktive Dirigent betont Bruckners untergründige Konflikte und eine sehr diesseitige Nervosität.

Das Orchesters arbeitete die Vielfalt der Stimmen ungewöhnlich klar heraus. Durch die traditionelle Aufstellung mit gegenübersitzenden Geigen wurde frappierend deutlich, wie oft bei Bruckner erste und zweite Violinen erst Meinungsverschiedenheiten austragen, dann in Dialog treten und zuletzt bei einsetzender Steigerung einträchtig zusammenfinden.

Die große Stärke dieser Aufführung der Symphonie Nr. 4 war nicht die ominöse Romantik ihres Untertitels, sondern die von den Interpreten oft vernachlässigte mittlere Ebene zwischen dem Pianissimo und den großen Höhepunkten. Herz der Aufführung war der zweite Satz. Der ist nicht - wie sonst oft bei Bruckner - ein feierliches Adagio, sondern ein "Andante quasi Allegretto", dessen resignativen Trauermarsch-Tonfall Blomstedt herauspräparierte. Die Streicher-Pizzikati nahmen Mahlers Glocken- und Harfen-Effekte vorweg. Dann setzte eine Steigerung ein, in der Blomstedt jedes Pathos vermied, ohne der Größe der Musik etwas wegzunehmen.

Auch bei Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert regierte eine klassische Nüchternheit. Das Orchester kultivierte eine kühle, bläserbetonte Farbigkeit, der sich auch der Solist Leonidas Kavakos mit seinem klaren, schlanken Klang anschloss. Die Höchstgeschwindigkeit im Finale kostete allerdings den Preis mangelnder Brillianz im Zusammenspiel zwischen Bläsern und Streichern.

Hier - und im Scherzo der Bruckner-Symphonie - hätte die Aufführung womöglich eine klare Schlagtechnik vertragen. Die ist Blomstedt altersbedingt nicht mehr gegeben, was sich aber verschmerzen lässt: Als Musiker, der Klarheit schätzt, ist dieser Dirigent mit jedem Jahr jünger geworden.

Das wollten erstaunlich viele Besucher miterleben: Auf den zuletzt leeren Stehplätzen im Herkulessaal drängten sich seit langem wieder einmal die Zuhörer.

Bei BR Klassik ist eine Aufzeichnung des Konzerts abrufbar