AZ-Filmkritik
"Gloria – Das Leben wartet nicht": Lebe, tanze, weine!
22. August 2019, 0:00 Uhr aktualisiert am 22. August 2019, 0:00 Uhr
Anrührend, modern und stark: Julianne Moore in dem kitschfreien, wahrhaftigen Film "Gloria - Das Leben wartet nicht".
Am Anfang des Tonfilms, also vor knapp hundert Jahren, gab es eine Methode, eine eigene Filmversion auch für einen anderen Sprachraum zu haben. Hatte der Regisseur "Cut" gerufen, drehte man als Nächstes einfach die gleiche Szene noch einmal, aber in der anderen Sprache. So ist zum Beispiel "Der Blaue Engel" parallel deutsch und englisch entstanden.
Natürlicher Sex, ab und zu einen Joint und die fantastische Moore
Witzigerweise gibt es dieses Verfahren immer noch, wenn sich die US-Filmindustrie für einen nicht-englischsprachigen Film interessiert. Denn Synchronisation ist in den USA unbeliebt, Untertitelung sowieso. So durfte der Chilene Sebastián Lelio seinen Film "Gloria", der vor sechs Jahren nicht nur auf der Berlinale begeisterte und für den seine Hauptdarstellerin Paulina Garcia den Silbernen Bären gewann, noch einmal auf Englisch drehen. Und dafür gewann er als Produzentin und Hauptdarstellerin jetzt Julianne Moore.
So hat der Film zweierlei Stärken: zum Einen, dass er ursprünglich nicht amerikanisch war. Denn dafür gibt es ohne scheu zuviel natürlichen Sex. Auch raucht Moore im Film und ab und zu sogar mal ein Joint zur Entspannung ohne warnenden Zeigefinger. Zum anderen ist Julianne Moore selbst eine Spitzenbesetzung, weil die spannende Balance aus Selbstbewusstsein und Sensibilität bei ihr etwas zu tief Anrührendes bekommt.
So hat "Gloria" eine wahrhafte Leichtigkeit, obwohl auch Tragik und Melancholie mitspielen, bei einem allerdings starken, optimistischen Schluss, der einem nicht mehr aus den Ohren geht: mit "Gloria" von Laura Branigan, dem Discosong von 1982, zu dem Gloria schon als junge Frau getanzt hat und sich jetzt noch einmal befreit ins Jetzt tanzt. Denn der Versuch einer neuen Beziehung (John Turturro) ist gerade niederschmetternd gescheitert an der Unfähigkeit eines Mannes, seine eigene Vergangenheit für etwas Neues loszulassen.
Im deutschen Kino sind gerade zwei Filme zu sehen, die Leben, Liebe und Lebensgefühl von modernen Frauen über 50 unkitschig und berührend zeigen. Juliette Binoche hat dabei die etwas verzweifeltere Rolle in "So wie Du mich willst". Julianne Moore ist spielerischer, hat mit ihrem Alter keine Probleme, findet leicht Kontakt, wie auf After-Work-Partys, nach ihrem Versicherungsjob, den sie uninteressiert routiniert abwickelt. Eine Kollegin ist ihre gute Freundin. Aber ist Gloria nicht doch einsam?
Einsam? Nicht wirklich. Aber auf der Suche nach Geborgenheit
Auch auf diese Frage findet der Film eine ausbalancierte, wahre Antwort: Ja, Gloria ist seit 12 Jahren geschieden, die beiden Kinder sind längst erwachsen, führen ihr eigenes gestresstes oder kompliziertes Leben und wimmeln sie eher ab. Und die ältere Mutter ist zwar solidarisch, aber streng und ein wenig enttäuscht vom Leben ihrer Tochter. Andererseits ist die bebrillte und popmusik-begeisterte Gloria einnehmend und kontaktfreudig und sie hat Energie, auch Tiefschläge wieder wegzustecken und immer wieder die Möglichkeiten des Lebens zu ergreifen, auch wenn es das Risiko birgt, verletzt zu werden. Denn natürlich sucht auch Gloria nach Geborgenheit im Leben.
Das Schöne ist, dass "Gloria" ohne Übertreibungen Tiefe schafft, schöne Bilder findet, die zusätzlich die Lebensfragen spiegeln - wie der obligatorische Yoga-Kurs und eine Lachtherapiegruppe, oder eine Skelett-Marionette eines Straßenmusikers. Und vor allem: "Gloria" vermeidet bei einer starken Frau alle gängigen oder kämpferischen Starke-Frauen-Klischees.
Kino: ABC, City, Gloria sowie Arena (OmU) und Museum (OV) B&R: Sebastián Lelio (USA, 99 Min.)
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