Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Eine Biografie über Mariss Jansons
5. März 2020, 17:31 Uhr aktualisiert am 5. März 2020, 18:02 Uhr
Markus Thiel zeichnet in einer Biographie das Leben des kürzlich verstorbenen Dirigenten Mariss Jansons nach.
Im Jahr 2001 verhandelt Mariss Jansons schon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das ihn zwei Jahre später als Chefdirigenten begrüßen wird. Zu diesem Zeitpunkt ist er noch in Pittsburgh engagiert und probt mit dem dortigen Symphonieorchester die Symphonie Nr. 8 c-moll von Dmitri Schostakowitsch. Nach der Generalprobe möchte Jansons auf Nummer sicher gehen und weist den damaligen Konzertmeister Andrés Cárdenes noch einmal auf die Schwierigkeit seines Violinsolos hin.
"Prompt ist dieser verunsichert", erzählt Markus Thiel, und im Konzert "gerät die Passage tatsächlich ins Schlingern". Und Jansons? Ist er verärgert, nach dem Motto: Ich habe es doch gesagt? Nein, er bittet den Geiger zu sich - und bittet ihn zerknirscht um Entschuldigung.
Selbstkritik und Kontrolle
Diese Anekdote ist typisch für Mariss Jansons, in vielerlei Hinsicht. Viele Orchesterkollegen beschreiben ihn als Kontrollfanatiker, und dieser Zug kommt auch in der gerade erschienenen Biographie des Münchner Musikjournalisten deutlich heraus. Ebenso charakteristisch ist aber für Jansons, dass er die Größe hatte, seinen eigenen Fehler einzusehen.
Ein Vorzug des Buches schließlich ist es, solche Begebenheiten zu überliefern. Thiel beschreibt den Lebensweg des gebürtigen lettischen Dirigenten nicht nur von außen, anhand der wichtigsten Chefpositionen, sondern hat mit Orchestermusikern und weiteren Insidern aus Oslo, Pittsburgh, Amsterdam, Wien und natürlich München gesprochen, also den wichtigsten Stationen von Jansons Reifezeit.
Diese Einblicke festzuhalten, ist schon an sich verdienstvoll. Denn solche Zeitzeugen müssen befragt werden, solange sie sich eben noch lebendig und verlässlich erinnern können.
Aus erster Hand
Dieses Buch ist nicht die erste biographische Annäherung an Jansons, doch es kommt, nur drei Monate nach dessen Tod, zu einem bemerkenswert frühen Zeitpunkt. Jansons selbst hatte die Biographie autorisiert und war dem Autor für Gespräche zur Verfügung gestanden.
So kann Thiel die Jahre der Kindheit und Ausbildung mit Material aus erster Hand beschreiben, was etwa für die Beziehung Mariss Jansons zum Vater Arvids erhellend ist, einem seinerzeit berühmten Dirigenten, der den größten Teil seiner Laufbahn in Leningrad verbrachte. Anschaulich zeichnet Thiel nach, wie sich der junge Mariss schrittweise aus dem Schatten des Vaters lösen muss, wie er das Interesse und die Protektion Herbert von Karajans gewinnt, in Wien beim gründlichen Hans Swarowsky am Handwerk feilt und 1971 Assistent des diktatorischen Jewgenij Mrawinsky in Leningrad wird.
Ungefähr ab diesem Zeitpunkt ähnelt Jansons Karriere ein wenig der anderer weltweit tätiger Dirigenten: verschiedene Chefposten bei verschiedenen Orchestern, Konzerte und Tourneen, allerlei Ärger mit dem Management. Interessanter sind diejenigen roten Fäden, die sich spezifisch durch Jansons Laufbahn durchziehen und die Thiel klar verfolgt: dass Jansons nach eigenem Urteil nie genügend Oper dirigierte (in diesem Jahr wäre in Salzburg "Boris Godunow" von Modest Mussorgsky auf dem Programm gestanden); die früh beginnenden gesundheitlichen Probleme, die durch Jansons Arbeitseifer und sein fraglos hohes künstlerisches Ethos noch kontinuierlich befördert wurden; der sympathische Charakterzug, dass er, verglichen mit anderen Dirigenten, ungewöhnlich kollegial eingestellt war und noch als arrivierter Dirigent bei Kollegen in Konzertproben saß, um von ihnen zu lernen; schließlich, prägend für die letzte Zeit seiner 17 Jahre beim Symphonieorchester, sein Einsatz für den Münchner Konzertsaal, während beim Bayerischen Rundfunk die Sparzwänge in künstlerischer Ignoranz immer wieder auch auf die hauseigenen Klangkörper ausgedehnt werden.
Gelegte Grundlagen
Das Einzige, was man in diesem Buch vermisst, ist eine aussagekräftige Einschätzung der künstlerischen Leistung Jansons. Freimütig gibt Thiel die Verlegenheit zu, dass man Jansons Stil letztlich im Vergleich zu Größen wie Herbert von Karajan ("klangliches Imponiergehabe") oder Leonard Bernstein ("extrem emotional") nicht mit einem "ihn umfassend charakterisierenden Begriff" fassen kann.
Zwar beschreibt Thiel, der als Musikkritiker des "Münchner Merkur" einen Großteil der Konzerte miterlebt hat, einzelne Ereignisse. Vielleicht ist er aber auch tendenziell etwas zu nah an der von ihm porträtierten Person dran, um kritisch zu hinterfragen, ob etwa Jansons Beethoven nicht zu perfektionistisch und kühl war, um auf lange Sicht neben denjenigen der größten Kollegen bestehen zu können: ob sie also interpretationsgeschichtlich wirklich bedeutsam waren.
Das wird sich wohl erst in einer größeren zeitlichen Distanz zeigen. Die Grundlagen für eine solche Reflexion werden durch Thiels Biographie aber sehr informativ und überzeugend gelegt.
Markus Thiel: "Mariss Jansons. Ein leidenschaftliches Leben für die Musik, München" (Piper, 320 Seiten, 25 Euro). Vor kurzem ist auch eine 7 CDs umfassende Box mit Aufnahmen von Mariss Jansons erschienen, die dieser als Chefdirigent mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gemacht hat (Sony)