Kultur

Denn das Gute liegt so nah

Guillermo Calderóns Singspiel "Bavaria" im Marstall


Von Anne Fritsch

Glimmende Salzsteinlampen, runde bunt gemusterte Sitzkissen, ein Zimmerspringbrunnen und ein gepolsterter Boden, auf dem man jederzeit Purzelbäume schlagen kann, wenn einem danach ist: Der Raum, den Sophia Sylvester Röpcke da in den Marstall gebaut hat, ist der wahr gewordene Traum jedes selbsternannten Gurus, die perfekte Meditations- (oder auch Manipulations-)Umgebung. Passend dazu hat Röpcke die sechs Spielerinnen eingekleidet: in bunte, esoterisch angehauchte Roben und Röcke, eine Mischung aus Eine-Welt-Laden und einem Hauch bayerischer Tracht.

Gleich zu Beginn schicken sie eine von sich vor, um die nötigen Ansagen zu machen. Herrlich unwirsch und lustlos fordert Mareike Beykirch das Publikum auf, die Handys auszuschalten und "den Moment des Mitsingens" zu genießen. "Mir ist das genauso peinlich wie Ihnen, aber das ist eine Mitsingveranstaltung", erklärt sie. Die Texte würden auf zwei Bildschirme projiziert, einer hinter der Bühne, der andere hinter dem Publikum: "Wenn Sie sich schämen, singen Sie einfach in die andere Richtung", so Beykirchs abgeklärter Rat.

Was das für eine Veranstaltung ist? Der chilenische Autor und Regisseur Guillermo Calderón hat im Auftrag des Residenztheaters ein Stück geschrieben und im Marstall inszeniert. "Bavaria" heißt es, und es handelt von einem deutschen beziehungsweise bayerischen Frauenchor, der ein wenig auch eine Mini-Sekte ist und der nach Paraguay auswandern will, um der Impfpflicht und anderen vermeintlichen Freiheitsberaubungen in der Heimat zu entgehen.

Die Geschichte deutscher Auswanderung nach Südamerika ist lang und nicht immer waren die Gründe für den Ortswechsel integer: Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen hochrangige Nationalsozialisten vor einer Strafverfolgung, 1961 gründete Paul Schäfer in Chile seine berüchtigte Colonia Dignidad, die später in Villa Baviera umbenannt wurde. Ein Sekten-Areal, in dem systematisch Kinder sexuell missbraucht wurden.

All das schwingt auch an diesem Abend mit, der trotz allem aber ein sehr heiterer ist. Calderón streift die schweren Themen, baut sie als Hintergrund in die Handlung ein, konzentriert sich aber aufs Hier und Jetzt. Und dieses spielt sich erstmal in Bayern ab, wo die sechs Damen und ihre doch nicht ganz kongruenten Auswanderungsträume aufeinandertreffen. Zwischen den alpenländischen ("Dirndl bist stolz") und chilenischen Liedern ("El cigarrito") wird verhandelt, ob Eva (Barbara Horvath) ihren Ehemann tatsächlich umgebracht hat, wie sie meint, oder ob er im Zuge eines Unfalls aus dem Sessellift in den Schnee gestürzt ist. Was das Handy mit seinem Tod zu tun hatte, bleibt dabei ebenso vage wie viele andere Handlungslinien. Was aber gar nichts macht.

Dieser Abend ist so durchgeknallt, überzeichnet und heiter, dass es allein eine Freude ist, dem Ensemble beim Turnen, Streiten, Singen und auch Scheitern zuzusehen. Anfälle religiösen Wahns stehen unkommentiert neben herrlich naiven Lied-Interpretationen: "Dieses Lied ist ein Lied über die Liebe", verkündet Lisa Stiegler, die die Exotin Franka gibt. Mit langen Zöpfen, weitem Rock und gestricktem Pulli sieht sie aus wie eine südamerikanische Folklore-Puppe, sie rollt das "R", dass es ihr beinahe aus dem Mund zu fallen scheint: "Vielleicht könntest du von vorn anfangen. In Südamerika", schlägt sie Eva vor. Und schürt die Freiheitsträume der anderen: "Aber was am wichtigsten ist, ist, dass es ein Ort ist, an dem uns niemand zwingen wird, uns impfen zu lassen. Ein Ort der Freiheit. Ein Ort für Musik."

Ohne zu viel zu verraten: die Realität ist oftmals anders als der Traum. Und nicht jede hier ist die, die sie vorgibt zu sein. Dieser Abend, der "Bavaria" heißt, sich aber vor allem um ferne Länder dreht, um abgehobene Träume und Wahnvorstellungen, ist in vielerlei Hinsicht aktuell. Im Grunde geht es gar nicht um Deutschland, Bayern, Chile oder Paraguay: Es geht um den Menschen, der sich das Weit-Entfernte gerne als Paradies ausmalt, anstatt das Gute zu sehen, das doch gar nicht so selten relativ in der Nähe wartet. Zumindest, wenn man in einem der privilegiertesten Länder der Welt zuhause ist.

Wieder am 13., 21., 30. März, 3. und 23. April im Marstall