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Matthias Keck über das vom Aussterben bedrohte Dorfkind
13. September 2019, 12:01 Uhr aktualisiert am 13. September 2019, 12:01 Uhr
Fernab vom Großstadtlärm, versteckt hinter dichten Wäldern und weiten Wiesen und eingebettet in einen Flickenteppich aus goldbraunen Feldern, da liegt sie: die Dorfidylle. Für den gehetzten Städter mag das Lust auf eine Auszeit machen. Für Kinder ist es das Paradies. Ich, ein waschechtes Dorfkind, habe jeden Tag mit meinen Freunden im Freien genossen. Fahrradfahren, durch Felder und Wälder laufen, auf Bäume klettern und mit aufgeschlagenen Knien und einer dicken Schicht Dreck am Körper nach Hause kommen. Schön war's! Doch dieses Paradies ist gefährdet.
Laut des Berichts "Die Zukunft der Dörfer" des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung sieht es tatsächlich schlecht aus für das Dorf: Das Land liefert wenig Arbeitsplätze. Große Unternehmen findet man in den Städten. In viele Dörfer fährt im besten Fall nur ein Bus am Tag - oder sogar keiner. Ohne Auto kommt man also nicht weit. Die Folge: Dorfbewohner werden immer weniger und vor allem älter. Die Jungen wollen raus. Kirchen bleiben leer. Vereine finden keine Mitglieder mehr. Schulen, kleine Betriebe und Gasthäuser schließen. Und die Dorfkinder? Sie sterben aus.
Ein Blick nach Frauenberg
Sieht es auf dem Land wirklich so aus? Frauenberg, bis 1974 eine eigenständige Gemeinde und heute ein Stadtteil von Landshut, ist ein kleines niederbayerisches Dorf. Die Wallfahrtskirche Maria Heimsuchung thront über den Wohnhäusern. Das Dorfwirtshaus ist seit 2010 wieder in Betrieb. Es gibt Vereine wie die Freiwillige Feuerwehr, die Katholische Landjugendbewegung (KLJB) und sogar eine Blaskapelle. Alles typisch Dorf. Hier bin ich groß geworden und hier lebe ich als 17-Jähriger auch heute noch. Natürlich ist Frauenberg nicht der Schwerpunkt der Stadtverwaltung. Trotzdem: Auch wir hatten eine eigens angelegte Spielstraße, einen Bolzplatz und einen Spielplatz. Mit einem Holzturm, einer Rutsche, einem Sandkasten und einer Schaukel - von der Stadt aufgebaut und in Stand gehalten. Bis zum vergangenen Jahr. Dann wurde alles abgerissen. Nur zwei Fußballtore sind noch übrig. Für die wenigen Kinder im Dorf war es wohl zu teuer und hat sich deswegen nicht mehr gelohnt.
Die Familie nebenan
Das Besondere an der Kindheit auf dem Land ist aber mehr als nur ein Spielplatz. Ein Kind braucht zum Aufwachsen Geborgenheit. Es braucht eine Familie. Hier bietet das Dorf neben Mama und Papa mehr. Die Großeltern leben meist keine hundert Kilometer entfernt. Sie wohnen gleich um die Ecke. In meinem Fall waren sogar mehrere Generationen unter einem Dach zu Hause, weil auch mein Opa bei uns wohnte. Unser unbestrittenes Familienoberhaupt ist meine über 90-jährige Großtante. Sie begleitet mich seit meiner frühsten Kindheit. Eine besondere Beziehung, die ich niemals missen möchte. Wäre so etwas auch in der Stadt möglich, wo man in einer von Tausenden Wohnungen lebt und nicht einmal seinen Nachbarn kennt?
Auf dem Dorf kennt man seine Nachbarn. Die Dorfgemeinschaft ist fester Bestandteil des Lebens. Man kann sich hier auf den anderen verlassen. Mein Vater, Elektriker, kümmert sich um kaputte Gefriertruhen, der Autobauer nebenan um den Roller, der nicht mehr anspringt. Solche Vertrauensverhältnisse haben mich geprägt. Sie sind eine Stütze für das Leben, das mir noch bevorsteht.
Völlig ab vom Schuss
Die Kehrseite meiner Kindheit im Grünen: Grundschule und Kindergarten liegen in der benachbarten Siedlung Auloh. Zum Einkaufen müssen Mama oder Papa in die Gemeinde Adlkofen. Die einzigen Busse fahren hier in der Pampa um 7 Uhr morgens ab und kommen mittags um 14 Uhr zurück. Einen Sportverein oder besondere Veranstaltungen für Kinder gibt es vor Ort leider oft auch nicht. Das Eltern-Taxi ist somit täglich im Einsatz.
Die Kleinen stört es wenig, dass sie zum Training und in die Schule weit gefahren werden müssen. Jugendliche zieht es aber in die Stadt, wo das Leben pulsiert. Dort kann man verrückt und frei sein. Das Dorfleben wirkt da sehr verschnarcht. Clubs, um bis in die Morgenstunden zu feiern, gibt es nicht. Auch keine Bars. Kulturangebot und Kinos fehlen ebenfalls. Tote Hose! Dazu kommt die Mentalität der Alteingesessenen. Hat man eine neue Freundin oder einen neuen Freund ist eines gewiss: Die üblichen "Dorfratschen" haben ein neues Gesprächsthema. Und geratscht wird viel. Das kann ziemlich nerven!
Vereine verbinden
Ganz pragmatische Gründe, warum man weg will, bleiben trotzdem. Für viele Ausbildungs- und vor allem Studienplätze muss man nun mal in die Stadt. Auch ich habe vor, zum Studieren von zu Hause wegzugehen. Aber jetzt - ich bin aktuell in der zwölften Klasse - gefällt es mir, so wie es ist. Das Dorf ist kein Gefängnis. Auch wir Landeier haben Wege, unsere Freizeit mit Spaß zu füllen. Wir Dorfkinder fahren natürlich oft in die Stadt. Aber auch das Leben auf dem Land hält einiges bereit. Dazu zählen die Vereine. Darüber kann man neue Kontakte zu knüpfen.
Die KLJB ist dafür ein gutes Beispiel. Sie gehört für viele ab 13 Jahren einfach dazu. Auch für mich. Man stellt mit Gleichaltrigen etwas auf die Beine, auf das am Ende alle stolz sind. Das schweißt zusammen. So organisieren wir jeden Sommer ein Sonnwendfeuer.
Vereine sind nicht die einzige Möglichkeit für gemeinsame Zeit. Die Jugend profitiert auch von der starken Nachbarschaft. Samstagabend, ein spontanes Bier im Garten nebenan. Irgendwann gesellt sich noch jemand dazu, kurz darauf der Nächste. Unverhofft entwickelt sich ein gemütliches Beisammensein. Ein Lagerfeuer wird angezündet, das laute Lachen ist bis spät in die Nacht zu hören. Ein perfekter Abend. Eine ehemalige Frauenbergerin bringt diesen Zusammenhalt beim letzten Dorffest gut auf den Punkt: "Frauenberg ist mehr als ein Dorf. Es ist ein Gefühl."
"Rettet die Dorfkinder"
Ist das Dorfkind nun vom Aussterben bedroht? Vielleicht. Vieles spricht dafür - vor allem, dass die junge Generation lieber in die Stadt zieht. Man kann uns aber nicht übelnehmen, dass wir weg wollen. Die Gründe sind nachvollziehbar. Ich will selbst mal rauskommen aus Frauenberg, zumindest zeitweise. Trotzdem kann ich versichern: Es ist eine unvergleichlich schöne Kindheit gewesen, die ich haben durfte. Sollte man die Dorfkinder also schützen? Auf jeden Fall!
Damit man sich auf dem Land wohlfühlt, braucht es dringend eine vernünftige Verkehrsanbindung. Denn Jugendliche müssen auch außerhalb der Städte flexibel und mobil sein. Ansonsten drohen die Dörfer auszusterben. Das wäre schade. Deshalb: Rettet das Dorf und seine Dorfkinder!
Dorfkinder sind selten geworden. Die Menschen zieht es immer mehr
in die Stadt. Das ist schade, findet Matthias Keck (17). Er ist in dem kleinen Ort
Frauenberg aufgewachsen, hat eine waschechte Dorfkindheit hinter sich
und zeigt, warum das Leben auf dem Land wunderschön ist.