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Kurzgeschichte: "Chaos in Plaunderberg"
11. Februar 2022, 11:11 Uhr aktualisiert am 11. Februar 2022, 11:11 Uhr
Hast du schon das Neuste gehört?", fragt die Kundin. "Nein. Sag schon! Ich sterbe vor Neugier", erwidert die Blumenhändlerin erwartungsvoll. "Du kennst ja die Tochter der Müllers. Oder?" Die Floristin nickt. "Anscheinend soll sie von zuhause ausgebüxt sein! Und das mit 15 Jahren!" "Nein! Unmöglich diese Jugend heutzutage", stimmt sie der Kundin zu. "Ihre Eltern haben anscheinend keine Kontrolle mehr über sie. Sie soll ja außerdem noch magersüchtig sein. Und einen Freund hat sie auch schon", reiht die Käuferin einiges an schlechten Eigenschaften des besagten Mädchens auf.
"Pah. Undankbar diese Jugend heutzutage! Ihre armen Eltern. Sie müssen sich ja solche Sorgen um sie machen. Wir waren damals anders!", behauptet die Blumenhändlerin. Die Kundin bezahlt ihre Ware und macht sich nach einer kurzen Verabschiedung auf den Weg nach Hause. Währenddessen betritt eine weitere Kundin das Blumengeschäft und die Floristin berichtet über das brandneue Thema, als gäbe es nichts Wichtigeres in Plaunderberg.
Gerüchte verbreiten sich schneller, als Usain Bolt sprinten kann
Plaunderberg ist ein kleines Fleckchen Erde, auf dem sich ein Gerücht schneller verbreitet, als Usain Bolt sprinten kann. So bleibt es nicht ohne Folgen, dass die erste Kundin ihre Gedanken der Blumenhändlerin offenbart hat. Nach einer Woche munterer Gespräche erreichen die Gerüchte auch das Haus der Müllers.
"Ich glaube, ich drehe durch! Mir platzt jetzt schon der Kragen, wenn ich höre, wie die Metzgerin über meine Tochter herzieht. Das ist doch kein Umgang miteinander!", beschwert sich der Vater. "Da ist wirklich etwas dran. Vor allem die Floristin verbreitet dieses dumme Gerede! Als wäre unsere Tochter magersüchtig. Und ausgebüxt ist sie auch nicht. Wie kommen die eigentlich auf die Idee, unserer Tochter etwas Derartiges anhängen zu wollen?", redet sich die Mutter in Rage. "Vielleicht kommt es daher, dass du seit Kurzem auf die regelmäßigen Telefongespräche mit der Blumenhändlerin verzichtest, da du wieder Teilzeit arbeitest."
"Glaube ich nicht. Eher hat es ihr jemand erzählt, der uns nicht mag. Seit ich wieder arbeite, gibt es ja Unzählige, die mich einen Kopf kürzer machen wollen. Die einen sagen, dass ich eine geniale Mutter bin, die drei Kinder und den Beruf unter einen Hut bringt, und die anderen sagen, dass ich meine Kinder vernachlässige. Und jetzt schießen sie mit ihrem Neid auf meine älteste Tochter. Am besten ich stelle die Floristin mal zur Rede", macht die Mutter einen Vorschlag, der beim Vater auf Zustimmung trifft.
Am nächsten Morgen, kurz nach der Mittagspause, macht sich die Mutter auf den Weg zu der Blumenverkäuferin, um ihr ihre Meinung zu geigen. Die Floristin derweilen ahnt nichts Böses und freut sich über den Besuch ihrer einstigen besten Dorffreundin, da sie schon lange nicht mehr miteinander gesprochen haben. "Hallo! Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen", ruft die Verkäuferin mit einem lächelnden Gesicht.
"Ja, das haben wir tatsächlich nicht. Seitdem ist auch unsere Freundschaft den Bach runter gelaufen, aber die können wir in nächster Zeit wiederaufbauen, wenn du mir verrätst, wer dir die Gerüchte über meine Tochter erzählt hat." "Warum denn das? Welche Gerüchte meinst du?", stellt sich die Floristin dumm. "Das weißt du ganz genau, Freundin. Meine Tochter traut sich wegen dir kaum noch aus dem Haus. Weißt du überhaupt, was du meinem Schatz wegen deiner lauten Klappe angetan hast? Sie kann nicht mehr unter die Leute gehen, ohne, dass sie jemand blöd auf ihre angebliche Magersucht anspricht!"
Die besorgte und zugleich wütende Mutter befindet sich in einem Zwiespalt, an dem sie zu verzweifeln droht. Hilft sie ihrer Tochter damit oder nicht? Wenn sie ihre einstmalige Freundin zur Rede stellt: Wird es ihrem Liebling schaden oder helfen? Sie weiß, dass sie sich auf einem schmalen Grat befindet. Entweder, sie treibt ihre Tochter noch weiter von ihr weg, oder sie ermöglicht ihr einen Neuanfang, indem sie die Floristin zur Rede zwingt. Sie weiß es nicht. Aber sie geht auf volles Risiko.
Anscheinend hat ihre Anmaßung etwas bewirkt, da die Verkäuferin sie mitfühlend und reuig ansieht. "Zugegeben, ich habe wirklich etwas falsch gemacht. Tatsächlich war ich dir beleidigt. Und da habe ich das Gerücht von der Alten aufgegriffen. Du hast mich einfach vergessen, obwohl wir seit fünfzehn Jahren jedes Dorfgeheimnis untereinander geteilt haben und uns unsere Sorgen über stundenlange Telefonate mitgeteilt und auskuriert haben. Es tut mir echt wahnsinnig leid. Ich war mir nicht im Klaren, was ich tat. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es um jeden Preis tun. Wirklich!" Ich glaube, das würde jeder tun. Jeder. Aber keiner kann es. Keiner.
Die Zeit lässt hoffentlich jeden vergessen
"Mach das einfach nicht wieder. Lern aus deinem Fehler und mach es beim nächsten Mal besser, wenn dir jemand ein lockendes Gerücht vor die Nase wirft. Sei schlauer und glaube an unsere Freundschaft. Sie wird weiterhin bestehen, auch wenn ich nicht mehr so viel Zeit wie früher habe."
Mit diesen Worten verlässt die Mutter den Blumenladen und kehrt dem Geschäft ihren Rücken zu. Keine dreißig Meter weiter setzt sie sich auf eine feuchte Holzbank und stützt ihren Kopf auf die Hände. Sie denkt darüber nach, wie sie ihrer Tochter helfen könnte. Wenigstens weiß sie nun, wer es war. Ihre Freundin. Aber nur die Zeit wird das traurige Herz ihrer Tochter heilen können. Zeit lässt dich vergessen. Und das hofft auch die Mutter für sich. Dass sie vergisst, wie ihre Freundin sie verraten hat. Vor allem aber, dass sie vergisst, welch ein Chaos ein einzelnes Gerücht in ihrer Familie angerichtet hat.