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Nie mehr zurück - eine Kurzgeschichte
6. Mai 2016, 17:58 Uhr
Ich kam mir vor wie eine Vollidiotin. Von vorne bis hinten und mittendrin am allermeisten. Ich stand am Tisch neben dem Fenster, inmitten von lauter chemischem Kram und Blättern mit Fachchinesisch, von dem ich keine Ahnung hatte. Meine Klassenkameraden arbeiteten alle wunderbar zusammen. Ihre Gruppenarbeit schien prima zu funktionieren. Nur meine nicht. Missmutig starrte ich aus dem Fenster, damit ich meine allerbeste Freundin, mit der ich kein Wort mehr redete, nicht ansehen musste. Es tat mir weh, wenn ich sie sah. Ihr Blick mir gegenüber war eiskalt - wie ein Gletscher am Nordpol.
Wenn sie mich so ansah, hatte ich das Gefühl, jemand würde mir zehntausend Messer ins Herz rammen. Frischgeschliffen und poliert. Und alle auf einmal. Langsam senkte ich den Kopf und drehte mich widerwillig um. Das waren wirklich die besten Voraussetzungen für eine Gruppenarbeit. Da bekam man wirklich Lust drauf. Hmpf. Meine allerbeste Freundin lächelte, unterhielt sich angeregt mit ihrer neuen Freundin und schüttete begeistert eine Säure nach der anderen in die Reagenzgläser. Ich atmete schwer aus. So, als müsste ich gleich ersticken. Irgendwie fühlte ich mich auch so. Das ganze Gerümpel, das an meiner Seele haftete, zog mich runter und schnürte mir die Luft ab. Ich wollte es loswerden, es abschütteln, aber es ging nicht. Ich war machtlos. Ähnlich, wie ein römischer Legionär in einer Schlacht, der kein Schwert mehr besaß. Er war dem Ganzen völlig ausgeliefert. Seinem Gegner und seinem Schicksal. Ich biss die Zähne zusammen, bis sie knackten und zog mir die Handschuhe an.
Ich ging langsam auf die beiden zu. Sie taten so, als wäre ich nicht da. Sie ignorierten mich einfach. Wenigstens war das besser, als mich gleich wieder anzugiften. Ich dachte gerade darüber nach, wie eine Lauge entstand, als sie sich plötzlich schnelle Blicke zuwarfen und auf die andere Seite des Klassenzimmers rannten. Mich ließen sie einfach stehen. Zwischen all dem Chaos von Laugen und Säuren. Meine Augen verwandelten sich in Schlitze. Ich lehnte mich gegen den Tisch und glotzte auf den Boden. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Ich spürte, wie die Enttäuschung in mir aufstieg. Ich fühlte mich auf einmal so leer. Als hätte jemand meine Seele gereinigt. Aber nicht positiv, sondern negativ. Den ganzen Ballast hatte man drin gelassen, das Gute entfernt. Restlos und unwiderruflich.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine allerbeste Freundin zurückkehrte. Sie war so nah, dass ich ihre Wärme spüren konnte. Ich starrte immer noch auf den Boden. Ich wollte nicht aufsehen. Mir kam alles so sinnlos vor. Der ganze chemische Kram, die Formeln und das restliche Gerümpel. Meine allerbeste Freundin griff nach einem Reagenzglas. Plötzlich schlug mein Herz wie wild. Fast so, als wollte es mir etwas mitteilen.
"Ich stand direkt vor meiner allerbesten Freundin."
Und dann kehrte die Kraft zurück, die ich in den letzten Monaten so sehr vermisst hatte. Sie erfüllte meinen ganzen Körper, meine Seele und mein Herz. Ich drehte mich um. Ich stand direkt vor meiner allerbesten Freundin. Unsere Blicke trafen sich. Plötzlich purzelten all die Worte nur so aus mir heraus, die mir seit der Eiszeit mit meiner allerbesten Freundin auf der Zunge lagen und die ich mir so oft so schmerzhaft verkniffen hatte. "Kannst Du mich einmal ganz normal behandeln? Nur einmal, verstehst Du?", rief ich und knallte meine Handschuhe auf den Tisch. Sie landeten perfekt auf der Tischplatte. Meine allerbeste Freundin sah mich scharf an. Aber das war mir gerade total egal. Die ganze Klasse starrte zu mir herüber. Die Jungs, die Mädchen und der Lehrer. "Nenzie? Alles in Ordnung?", fragte Herr König.
Natürlich war nicht alles in Ordnung. Das sah man doch. Manchmal kapierten Lehrer einfach gar nichts. Völlig unbeirrt brüllte ich weiter: "Was ist mit Dir los? Weißt Du überhaupt, wie sich das anfühlt? Ich war einmal Deine allerbeste Freundin. Wach endlich auf." Jetzt war es still. Keiner sagte etwas. Im ganzen Raum Schweigen. Alle glotzten mich an. Ihre Blicke waren bohrend, doch ich registrierte sie nicht richtig. Ich hatte das Gefühl, dass sich ein unsichtbarer Mantel um meinen Körper gebildet hatte, der alles abwehrte, was mir zu nahe kam.
Meiner allerbesten Freundin stand der Mund offen. In der Hand hielt sie immer noch das Reagenzglas. Jetzt war sie die Vollidiotin zwischen all dem chemischen Gerümpel. Nicht ich. Ich sammelte mein Zeug auf, nahm meine Jacke in die Hand und stürmte nach draußen. "Nenzie, was ist los? Komm zurück!", brüllte mein Lehrer. Der sollte seine Klappe halten. Wegen ihm hatte ich doch das ganze Theater. Hätte er mich nicht mit IHR in eine Gruppe gesteckt, wäre das gerade alles nicht passiert. Aber seit er mitbekommen hatte, dass zwischen meiner allerbesten Freundin und mir Eiszeit herrschte, hatte er sich in den Kopf gesetzt, uns wieder zusammenzubringen. Hatte ja wirklich prima funktioniert.
Die Wahrheit war, dass das schon lange das Ende war. Er hatte es bloß nicht wahrhaben wollen. Und ich auch nicht. Doch jetzt hatte ich es gemerkt. Es tat verdammt weh. Es war vorbei. Zu Ende. Aus. Für immer. Diese Erkenntnis trieb mir Tränen in die Augen. Meine allerbeste Freundin und ich - das unzertrennliche Duo, das gab es nicht mehr. Daran konnte kein Lehrer der Welt etwas ändern. Ich knallte die Tür zu und lief los. Meine Schritte hallten über den ganzen Flur. Das Echo war nicht zu überhören. Meine Schuhe quietschten vorwurfsvoll auf. Niemand holte mich zurück. Keiner. Ich lief weiter, bis meine Schritte verebbten. Ich kam nie mehr zurück. Nie mehr.