Interview
„Wir lesen mehr, nicht weniger“
20. November 2019, 17:29 Uhr aktualisiert am 20. November 2019, 17:29 Uhr
Lesen wir mehr oder weniger, seit es Smartphones gibt? Warum ist Lesen überhaupt noch wichtig, wenn wir doch alle wichtigen Informationen als Sprachnachricht, auf Youtube oder – wenn überhaupt in Textform – als Kurztext erhalten? Das weiß Prof. Dr. Simone Ehmig, die Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen in Mainz. Sie sprach beim Lehrermedientag zum Thema „Lesen im digitalen Zeitalter – Lesekompetenz, Lesepraxis und Lesebegriff“.
Gefühlt lesen wir immer weniger. Informationen erhalten wir oft als Pushed-Nachricht oder per Twitter auf unser Handy. Ist es heutzutage überhaupt noch wichtig, dass wir lange Text lesen können?
Simone Ehmig: Das Gefühl, das Sie beschreiben, hat man nur, wenn man Lesen als Lesen längerer Texte, vor allem von Büchern, versteht. Faktisch ist es aber so, dass wir im Alltag mehr Zeit mit Lesen verbringen. Überall begegnet uns Information in Textform: auf Hinweisschildern, an Fahrkartenautomaten, in Form von Nachrichten aufs Smartphones, in Formularen. Oft müssen wir vor allem schnell lesen können, zum Beispiel am Automaten, der den Vorgang abbricht, wenn wir nicht innerhalb weniger Sekunden das richtige Feld auf dem Touchscreen berühren. Um sich hier zurecht zu finden, sind fundierte Lesekompetenzen erforderlich. Diese erwerben wir über Bücher, Zeitungsbeiträge und so weiter. Die Grundlagen dafür werden in der frühen Kindheit durch das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern, das Vorlesen und Erzählen von Geschichten gelegt.
Welche Folgen hat es, dass Sprachnachrichten, Hörbücher und Podcasts, wenn man also nebenbei Informationen bekommt, immer beliebter werden?
Ehmig: Diese Formate ergänzen die Vielfalt und Vielzahl von Texten. Dabei ist Hören etwas Anderes als Lesen. Wir verarbeiten das, was uns akustisch erreicht, anders als einen Text. Beim Lesen konzentrieren wir uns idealerweise komplett und kommen auch körperlich zur Ruhe. Hörmedien ersetzen das Lesen nicht – vor allem in der frühen Kindheit Hörspiele nicht das Vorlesen.
Wie wirkt es auf die Lesekompetenz, wenn ich ein Smartphone, Tablet oder Digitalbuch statt eine Zeitung oder ein gedrucktes Buch in der Hand halte?
Ehmig: Die Studien, die es dazu gibt, zeichnen ein ambivalentes Bild. Häufig werden nur diejenigen Befunde beachtet, die die Überlegenheit von gedruckten Medien zeigen. So gibt es Hinweise darauf, dass vor allem sachbezogene Inhalte, die unter Zeitdruck gelesen werden sollen, besser verstanden werden, wenn sie gedruckt vorliegen. Das liegt unter anderem daran, dass wir bei Papier sehen können, wie lang ein Text ist, so dass wir beim Lesen zeitlich ökonomisch vorgehen. Bei E-Text-Formaten lässt sich oft nicht so genau feststellen, wo im Text ich mich bewege. Insgesamt haben wir zum Lesen auf digitalen Medien aber noch viele offene Fragen.
Das Problem dabei ist, dass in den Studien meist versucht wird, die Bedingungen des papiergebundenen Lesens digital nachzustellen. Aber es ist eben nicht so, dass digitale Medien analoge Welten einfach elektronisch übersetzen. Sie schaffen vielmehr völlig andere Nutzungs- und Rezeptionsbedingungen. Hier müssen wir in der Forschung offener werden für die eigenen Gesetze des Digitalen.
Welche Folgen hat das für Lehrer? Wie können sie die Schüler zum Lesen motivieren?
Ehmig: Die Schule hat den Nachteil, dass Kinder das, was sie dort tun, meist nicht freiwillig tun. Genau das hat aber den Vorteil, dass die Schüler bestimmte Anforderungen erfüllen müssen und zum Beispiel Schiller, Nestroy, Molière, Enzensberger lesen müssen. Diese Autoren stehen in Bayern auf der Liste der Lektürevorschläge für achten Klassen. Als Lehrkraft kann man die Motivation steigern, zum Beispiel indem man den gedruckten Text mit multimedialen Anregungen ergänzt.
Viele klassische Stoffe sind verfilmt. Manche Themen – auch älterer Romane, Dramen oder Gedichte – finden sich in den Kanälen der sozialen Netzwerke oder sogar in Computerspielen. Augmented und Virtual Reality vermitteln Zugänge zu Sachthemen. So können Christoph Kolumbus´ „Bordbuch“ oder Stefan Zweigs „Kampf um den Südpol“ nicht nur mit digitalen Angeboten, sondern auch mit den Inhalten anderer Schulfächer verbunden werden. Bei all dem soll es nicht darum gehen, das Lesen der Texte überflüssig zu machen, sondern zu vermitteln, dass sich die Inhalte über das Lesen auf ganz andere Weise erschließen, wenn man sie als Hörbuch, Kinofilm oder Graphic Novel wahrnimmt.
Welches Leseniveau sollten Kinder und Jugendliche wann ungefähr erreicht haben?
Ehmig: Hierzu enthalten die Lehr- und Bildungspläne klare Richtlinien. Sie liegen auch den Untersuchungen zur Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen zugrunde. Sie zeigen, dass bundesweit 18,9 Prozent der Kinder in den vierten Grundschulklassen nicht ausreichend lesen können. Meistens macht man die Schule dafür verantwortlich. Die Kinder kommen aber schon mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die erste Klasse. Wem zu Hause vorgelesen wird, der lernt später nachweislich leichter das Lesen. Diese Kinder haben eine höhere Lesemotivation und eine intensivere Lesepraxis. Darüber fällt ihnen das Verständnis von Texten in allen Schulfächern leichter und sie haben im Durchschnitt bessere Schulnoten.
Was macht digitales Lesen mit unserem Wortschatz, mit der Menge an Wörtern, die wir beherrschen? Und was macht das mit unserer Kommunikation, unserer Konfliktlösungskompetenz, unserer Diskussionskultur?
Ehmig: Die Frage suggeriert, dass der Umgang mit Kurztexten, Sprachinhalten und Videos das Lesen längerer Texte ablöst. Diese Annahme ist falsch: Erhebungen haben gezeigt, dass Digitalisierung und „Häppchenlesen“ nicht auf Kosten des Bücherlesens gehen. Probleme bestehen aber – und das schon länger als es WhatsApp und Twitter gibt – darin, dass viele Menschen deshalb keine Bücher lesen, weil sie nicht oder nicht gut lesen können. Hier müssen wir präventiv und aufholend ansetzen, um allen Zugang zum Lesen zu ermöglichen und sie auch im Erwachsenenalter dazu zu befähigen.
Dabei müssen wir neben den Möglichkeiten, gedruckte Bücher, Romane und gute Literatur zu lesen immer gleichwertig auch die Anforderungen, kurze Texte im digitalen Raum lesen zum müssen, im Blick haben. Nur so gewährleisten wir in zumindest minimalem Maße Zugang zu Kommunikation, Konfliktlösung und Diskussionskultur auch für diejenigen, die sich von Büchern, Tageszeitungen und Wochenmagazinen mit langen Hintergrundartikeln ausgeschlossen sehen.