Klaus Mertes über Missbrauchsskandal

"Plötzlich entschlüsselte sich eine ganze Welt"


Moderiert von Alfons Hämmerl, katholischer Hochschulseelsorger an der Hochschule Landshut (l.), und Mechthild Wolff von der Forschungsgruppe "Kinderschutz in Institutionen", tauschten sich Jörg Fegert (2. v. l.) und Pater Klaus Mertes im Landshuter Salzstadel aus.

Moderiert von Alfons Hämmerl, katholischer Hochschulseelsorger an der Hochschule Landshut (l.), und Mechthild Wolff von der Forschungsgruppe "Kinderschutz in Institutionen", tauschten sich Jörg Fegert (2. v. l.) und Pater Klaus Mertes im Landshuter Salzstadel aus.

Von Uli Karg

Am 14. Januar 2010 bekam Pater Klaus Mertes, Rektor des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin, Besuch von drei ehemaligen Schülern des Internats, Abiturjahrgang 1980. Sie erzählten ihm vom Missbrauch, den sie im Kolleg erlebt hatten. Und Pater Mertes, ein Vertreter der Kirche, glaubte ihnen.

Seither setzt sich Mertes für Missbrauchsopfer ein. Nach dem Gespräch schrieb er einen Brief an ehemalige Schüler aus den 70er- und 80er-Jahren, mit der Aufforderung, dass sich weitere Betroffene bei ihm melden mögen. Der Brief wurde am 28. Januar 2010 in der Berliner Morgenpost veröffentlicht. Das Datum gilt seither als Wendepunkt im Umgang mit Missbrauch in Institutionen. Zehn Jahre später trafen sich Pater Mertes und Professor Jörg Fegert von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm, der als einer der renommiertesten Sachverständigen für den Missbrauch in Institutionen gilt, zum Podiumsgespräch auf Einladung der Hochschule Landshut.

Erst durch den Brief von Pater Mertes "ist Missbrauch in Institutionen als wissenschaftliches Thema salonfähig geworden", sagte Fegert. Zuvor habe man 30 Jahre lang versucht, damit in der Wissenschaft Gehör zu finden. "Dann kam Pater Mertes, das Thema stand in allen Zeitungen und plötzlich kam Bewegung in die Sache."

Für Pater Mertes macht eines sein damaliges Handeln einmalig: "Generell heißt es, dass man bis zu zehn Jahre braucht, bis eine Missbrauchsgeschichte anerkannt wird. Ich habe das gleich anerkannt." Damit stellte sich erstmals ein Vertreter einer Institution hinter die Opfer und sicherte Aufklärung zu. Der Grund, warum er den drei Männern sofort glaubte: die "lange Gerüchtekultur" innerhalb der katholischen Kirche, sagt Mertes. "Und das, was ich hörte, passte. Plötzlich entschlüsselte sich eine ganze Welt."

Begriff "Wille Gottes" hat viele Übergriffe ermöglicht

In der Folge sei ihm klar geworden, dass es bei sexuellem Missbrauch nicht darum gehe, dass sich jemand "nicht beherrschen" könne, sondern dass es sich dabei um ein System handle, in dem Kinder und Jugendliche gezielt angegriffen werden. Im Falle der Kirche habe das einen "katholischen Geschmack", sagte Mertes. Wenn etwa ein Kind missbraucht werde und sich damit an die Eltern wende, bekomme es zu hören: "So spricht man nicht von einem Priester."

Eine seiner erschreckendsten Erkenntnisse während des Aufklärungsprozesses sei es gewesen, dass schwerwiegende geistliche Übergriffe ohne den Begriff des "Willen Gottes" nicht möglich gewesen wären. "Woher weiß man aber, was der Wille Gottes ist?", fragte Mertes, der die Frage gleich unter Verweis auf ein Wahrheitsmonopol beantwortete: "Eine Möglichkeit, dem Missbrauch den Weg zu ebnen, ist es, sich hinzustellen und zu sagen: Ich weiß es für Dich."

"Erschreckende Parallelen" zu anderen Institutionen

Hierbei, so Jörg Fegert, gebe es "erschreckende Parallelen" zu anderen Institutionen. "Kinder, die in der Psychiatrie missbraucht werden, bekommen zum Beispiel zu hören: ,Du weißt, dass Du darüber nicht reden darfst. Schweigepflicht!' Analoge Fälle gibt es bei Missbrauch in der Beichte, wo es dann ums Beichtgeheimnis geht."

Generell, so Fegert, habe Missbrauch immer mit einer Ausnutzung von Machtverhältnissen zu tun - ob in der Kirche, in Kliniken, Internaten oder Sportvereinen. Lange Zeit hieß es daher, dass ein reformpädagogischer Ansatz Missbrauch verhindere, so Fegert. "Dann wurden vor 20 Jahren die Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule publik und das Argument ist zerbröselt."

Fegert nahm auch Stellung zu einer These von Papst Benedikt XVI., wonach das Klima der 68er mitverantwortlich für den Missbrauchsskandal in der Kirche sei: "Das zeugt von einer völligen Fehleinschätzung. Wir haben viele Berichte von Missbrauch aus der Zeit davor, in der angeblich noch alles in Ordnung war." Fegert kritisierte auch die Begriffe "Krise" oder "Katastrophe", die im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche immer wieder von hohen Klerikern verwendet wurden. "Ein Vorwissen gab es in allen Institutionen und natürlich auch in der katholischen Kirche. Darauf deuteten alleine schon bestimmte Spitznamen für die Täter hin. Mit einem Wort wie ,Katastrophe' wollte man von der Verantwortung der Mächtigen ablenken."

Chance für Prediger, Niveau zu heben

Machtverhältnisse, sagte Pater Mertes, seien in Institutionen unvermeidbar. Entscheidend sei daher die Machtkontrolle. Was die katholische Kirche betrifft, müsse endlich eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt werden. "Da herrscht nach wie vor völlige Intransparenz." Außerdem müsse man sich als Prediger bewusst machen, dass sich in jedem Raum, in dem man spreche, Missbrauchsopfer befinden könnten. "Und da muss man sich folgende Fragen stellen: Wie reden wir über Vertrauen? Wie reden wir über Nähe? Wie reden wir über Familie? Nachdem bekannt ist, dass viele Opfer in der Familie missbraucht wurden." Dies, so Mertes, biete "die irrsinnig große Chance, wieder Niveau in die theologische Sprache zu bringen".

Welche unmittelbare Wirkung der Aufklärungswille von Pater Mertes auch für Missbrauchsopfer in anderen katholischen Internaten hatte, wurde im Anschluss an das Podiumsgespräch in der Publikumsrunde deutlich. Von einem "Höllen-Aufenthalt" bei den Regensburger Domspatzen sprach da ein Herr, der das Internat Anfang der 60er-Jahre besucht hatte. 20 Jahre lang habe er die Missbrauchserfahrungen verdrängt. "Dann habe ich zehn Jahre intensive therapeutische Betreuung in Kliniken gebraucht."

Erst 2006 sei er in der Lage gewesen, den Domspatzen einen Brief zu schreiben, in dem er seine Erlebnisse geschildert habe. "Daraufhin bekam ich einen Anruf, in dem mir mitgeteilt wurde, dass man nicht feststellen konnte, dass ich dort Schüler gewesen sei."

2010 seien durch Pater Mertes schließlich die Fälle am Canisius-Kolleg publik geworden. "Da bekam ich eines Tages einen Anruf aus Regensburg. Ich möchte mich bitte melden."