Auswüchse des Pflegekräftemangels

Altenpflegerin gibt schockierende Einblicke in Heime für Senioren

"Dieses System gefährdet Menschenleben"


Einmal kurz mit der Pflegerin die Beine vertreten? Dafür haben die meisten Fachkräfte keine Zeit im hektischen Alltag im Altenheim.

Einmal kurz mit der Pflegerin die Beine vertreten? Dafür haben die meisten Fachkräfte keine Zeit im hektischen Alltag im Altenheim.

Von Eva von Steinburg

Pflege ist ein sensibler zwischenmenschlicher Kontakt. Alte Menschen haben feine Antennen. Viele spüren die Gefühle und den Stress ihrer Pflegerinnen und Pfleger. "Das Vertrackte ist, dass sich mit schlechter Pflege heute sehr viel Geld verdienen lässt", kritisiert die erfahrene Münchner Altenpflegerin Eva Ohlerth (60). Die Münchnerin kennt mehr als zehn Alten- und Pflegeheimen in der Stadt. Im Buch "Albtraum Pflege" beschreibt sie, wie immer häufiger Profit vor Menschenwürde geht: Heimbetreiber würden gerade aus der Notlage mit dem Pflegekräftemangel einen kräftigen Gewinn ziehen. Ein Gespräch über eine unschöne Seite des Pflegebetriebs.

Frau Ohlerth, wieso ist das Pflege-Geschäft für Heimbetreiber so lukrativ?

Die Altenpflegerin Eva Ohlerth kritisiert das System Pflege.

Die Altenpflegerin Eva Ohlerth kritisiert das System Pflege.

Eva Ohlerth: Die attraktive wirtschaftliche Seite der Pflege wird oft vergessen. Aber inzwischen kommen immer mehr Schwerstkranke als Klientel in die Heime. Und Intensivpflege wird den Heimen gut bezahlt.

Man hört es immer wieder: Für die adäquate Versorgung von Schwerkranken gibt es nicht genügend qualifiziertes Personal.

Ohlerth: Das ist der Punkt. Die Intensivpflege für Bewohner, die eine Magensonde oder einen Katheter haben, wird mittlerweile oft von unterbezahlen Hilfskräften geleistet. Aber sie wird von examinierten Kräften betrügerisch abgezeichnet, damit alles auf dem Papier seine Richtigkeit hat. Das ist illegal, in Pflegeheimen aber an der Tagesordnung. Das maximiert den Gewinn. Die Heime verdienen so doppelt!

"Vieles wird der Logik der Börse untergeordnet"

An welchen Stellschrauben drehen Heimbetreiber noch, um Gewinne zu steigern?

Ohlerth: Beim Essen für einen Bewohner kann ich zehn Euro pro Tag veranschlagen, oder nur zwei Euro. Hilfspfleger aus Osteuropa arbeiten teilweise für 1200 Euro brutto. Denn kaum ein Heim hat noch Tarifbindung.

Das Engagement internationaler Hedgefonds - also Investmentfonds, die hohe Risiken eingehen - hat sich in der deutschen Pflegewirtschaft in 15 Jahren stark erhöht.

Ohlerth: Es ist so: Große Fonds sind verstärkt auf der Suche nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Und kaum eine Investition bietet so viel Sicherheit wie das deutsche Sozialsystem - es sind nahezu 100 Prozent! Denn wenn hierzulande ein Angehöriger den Pflegeplatz nicht mehr mitbezahlen kann, springt Vater Staat ein.

Wo liegt die Gefahr?

Ohlerth: Wenn finanzkräftige Beteiligungsunternehmen zum Wohl ihrer Aktionäre Heime kaufen, oder ganze Ketten, dann möchten sie mit der Pflege gutes Geld verdienen. Investoren in Pflegeheime werden Renditen zwischen 4,5 und sieben Prozent versprochen. Im Haus und bei der Versorgung der alten Menschen werden dann viele Gedanken der Logik an der Börse untergeordnet.

Ungefähr die Hälfte der Heime sind inzwischen in privater Hand.

Ohlerth: Es gibt natürlich gute private Heime und schlechte kommunale oder kirchliche Häuser. Ich fordere von der Politik, dass sie mehr kommunale Pflegeplätze bereitstellt. Damit die Daseinsfürsorge nicht immer mehr zum skrupellosen Geschäft verkommt.

Schlechtes Essen, durchnässte Betten: In Ihrem Buch schildern Sie skandalöse Zustände in Heimen.

Ohlerth: Ich will bekannt machen, dass vor allem in den Abendstunden in den Heimen ein völlig überfordertes Personal ohne Ausbildung arbeitet. An den Wochenenden ist es noch schlimmer.

Was haben Sie erlebt?

Ohlerth: Als junge Pflegeschülerin am zweiten Arbeitstag war ich schon allein für über zehn Bewohner verantwortlich. Ich kam mir vor wie im falschen Film.

Sie vergleichen den aktuellen Pflegenotstand mit unterlassener Hilfeleistung - einer Straftat.

Ohlerth: Ich weiß, dass das System Menschenleben gefährdet. Heime mit standardisierter Notbesetzung sind für mich ein rechtsfreier Raum. Es gibt Heime, denen sollte die Staatsanwaltschaft einen Besuch abstatten.

Sie beschreiben extreme Gefühle bei der Arbeit.

Ohlerth: Ich kam mir teilweise vor wie eine Melkmaschine. Ich habe erlebt, dass alte Menschen bewirtschaftet werden wie in der industriellen Tierhaltung. Schuld ist die Minutenpflege, wenn ein Mensch zu lange für eine Handlung braucht, ist das nicht wirtschaftlich. Hier hat die Akkordarbeit in der Industrie Pate gestanden.

Nennen Sie ein Beispiel, bitte.

Ohlerth: Während einer Nachtwache waren zu viele Bewohner zu versorgen. Ich habe versucht, ihre Urinbeutel möglichst leise zu leeren, um ja kein Wort mit einem von ihnen sprechen zu müssen. Einfach nur, damit ich mit der Arbeit fertig werde. Danach habe ich geweint. So will ich nicht arbeiten! Schlafstörungen sind dazu gekommen - es ging bis zum Burn-out.

Sie beschreiben, wie Senioren mit Medikamenten ruhiggestellt werden und Windeln bekommen, weil der Helfer sich nicht die Zeit nimmt, sie zur Toilette zu begleiten.

Ohlerth: Es gibt sogar Fälle, bei denen Senioren vorschnell per Schlauch durch die Bauchdecke ernährt werden, um sie nicht füttern zu müssen - was zeitraubend sein kann. Anstrengende Senioren werden so als problemlose und willenlose Verfügungsmasse durch den Betrieb geschleust. So wird Zeit gespart und der Gewinn für den Betreiber maximiert.

Sechs Jahre haben Sie in der Schweiz gearbeitet. Was läuft dort besser in der Pflege?

Ohlerth: Vor allem gibt es mehr Wertschätzung, das ist spürbar. "Toll" oder "Respekt", sagen Menschen, wenn ich meinen Beruf nenne. Hier höre ich "also, na ja" oder "das könnte ich jetzt nicht". Es gibt eine flache Hierarchie, mehr Kommunikation auf Augenhöhe und mehr Mitbestimmung. Ein wichtiger Aspekt für mich ist, dass in der Schweiz Weiterbildung gewünscht und bezahlt wird.

Wer selbst gut behandelt wird, behandelt andere gut, sagen Sie. Warum geht das in Bayern nicht?

Ohlerth: Bei uns wird nicht sozial gedacht. Wir können es uns noch erlauben, Pflegekräfte zu treten. Oft gibt es eine dilettantische Führung in den Heimen mit Profitdenken. Als Folge laufen die guten Pflegerinnen weg. Es gibt viele Ausfälle, was Möglichkeiten zu tricksen eröffnet: Ein Haus lässt viele Stellen drei Monate unbesetzt. Danach stellt es Kräfte nur mit Zeitvertrag ein, um nach zwei Jahren keine Gehaltserhöhung zahlen zu müssen.

"Ich warte auf den Zusammenbruch"

Was fordern Sie?

Ohlerth: Eine Tarifbindung für alle Heime. Die christlichen Häuser sind noch im Tarifvertrag, aber die Awo hat ihn gekündigt. So könnten Heime auch die ausländischen Kräfte nicht miserabel bezahlen.

Wie kann das System Pflegeheim verbessert werden?

Ohlerth: Heimen, die eine Leistung nicht erbracht haben, kann das Geld gekürzt werden. Dafür müssen aber zuerst die Pflegerinnen aufwachen. Sie müssen das falsche Abzeichnen von nicht selbst erbrachten Leistungen boykottieren.

Rebellische Arbeitnehmer können ihren Arbeitsplatz verlieren.

Ohlerth: Wer deswegen rausfliegt, bekommt in einer Stadt wie München sofort wieder einen Job. Das ist im Moment das Gute. Schweigen und mitmachen, das ist doch feige. Ich erlebe, dass es jetzt mehr Pflegerinnen und Heimleitungen gibt, die aus dem furchtbaren Dilemma herauswollen.

Was hoffen Sie?

Ohlerth: Wie viele andere Kolleginnen warte ich darauf, dass es endlich mal knallt - und das skandalöse System zusammenbricht.