Radsport-Ikone im AZ-Interview
Dietrich Thurau: "Egan Bernal ist jetzt schon ein Volksheld"
30. Juli 2019, 6:32 Uhr aktualisiert am 30. Juli 2019, 6:32 Uhr
Radsport-Ikone Dietrich Thurau spricht in der AZ über den Toursieger, den Erfolg von Emanuel Buchmann und Jan Ullrichs Absturz: "Jeder andere wäre tot."
Dietrich Thurau (64) fuhr bei der Tour 1977 insgesamt 15 Tage im Gelben Trikot, war zudem Vizeweltmeister 1977 und 1979.
AZ: Herr Thurau, die 106. Tour de France ist mit dem Sieg des erst 22-jährigen Kolumbianers Egan Bernal zu Ende gegangen. Wie lautet das persönliche Fazit der deutschen Radsport-Ikone?
DIETRICH THURAU: Wir haben in meinen Augen die spannendste Tour de France der letzten Jahre gesehen, das hat richtig Spaß gemacht, weil eben nicht nur taktisch gefahren wurde. Das hatte ganz viel mit dem Franzosen Julian Alaphilippe zu tun, der immer wieder wunderbar attackiert und alles riskiert hat. Der war nicht vom Funk gesteuert oder dem hat nicht irgendein Computer gesagt, wann er was machen soll, der war nicht fremdgesteuert, sondern ist einfach drauflos gefahren, wenn er das Gefühl hatte, dass es bei ihm passt. Das war so, wie wir früher gefahren sind.
Sie klingen begeistert.
Ja. Weil man mit Alaphilippe einfach mitfiebern musste. Immer wieder hat man das Gefühl gehabt, er ist vollkommen am Ende und dann hat er irgendwo doch noch eine letzte Reserve gefunden. Aber am Schluss war der Tank einfach total leer, er hat mehr gegeben und erreicht, als er eigentlich in sich hatte. Letztlich war es für ihn sogar gut, dass die 19. Etappe wegen des Wetterchaos abgebrochen wurde, sonst wäre er da schon durchgereicht worden.
Und dann natürlich Bernal...!
Klar, der Junge ist außergewöhnlich. Er war in den Bergen einfach mit Abstand der Beste. Er hat sich den Sieg mehr als verdient und ich bin mir sicher, wir werden noch viel von dem Jungen hören. Solche Sportler wie ihn gibt es nicht oft. Aber ich halte nichts davon, dass man jetzt schon sagt, er wird eine Ära prägen, oder darüber redet, wie oft er die Tour noch gewinnen wird. Er hat jetzt einen Sieg, das ist grandios, damit hat er mehr erreicht als fast alle Menschen...
Inklusive Ihnen, Sie trugen das Gelbe Trikot 1977 zwar 15 Tage, zum Gesamtsieg hat es aber nicht gereicht.
(lacht) Richtig, inklusive meiner Person. Man muss sehen, dass jetzt bei Bernal alles gepasst hat. Der fünfmalige Tour-Sieger Chris Froome war nach seinem Sturz nicht dabei, Geraint Thomas, der Sieger des vergangenen Jahres, war nicht ganz so stark. Der hat seinen Triumph, was man so hört, vielleicht auch ein bisschen ausgiebig gefeiert. Wir werden sehen, was Bernal alles erreicht. Ja, er ist erst 22, aber es sind auch schon viele Junge dann wieder in der Versenkung verschwunden. Das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen, weil er den Biss hat, in Kolumbien jetzt ein Volksheld ist, aber ich will keine Lorbeeren verteilen, die man sich erst verdienen muss.
Lorbeeren hat sich aber auch der Deutsche Emanuel Buchmann verdient, der sensationell Gesamtvierter wurde.
Chapeau! Viel besser kann man es nicht machen, er hat mir sehr gut gefallen. Er ist nur so ein bisschen ein Zauderer. Hätte er in den Bergen vielleicht doch hie und da ein bisschen mehr riskiert, die eine oder andere Attacke gefahren, wäre vielleicht das Podium drin gewesen. Da fehlte in diesem Jahr noch das letzte Quäntchen. Vielleicht kommt es ja noch.
Peter Sagan hat zum siebten Mal das Grüne Trikot des besten Sprinters geholt. Der Mann ist ein Phänomen, oder?
Absolut. Und er macht das alles auf diese lockere Art, der gefällt mir. Wie er auf nur einem Rad wie ein Kunstradler über die Ziellinie fährt. Oder wie er einem Fan während der Fahrt ein Autogramm gibt. Solche Typen braucht der Radsport. Sie sorgen für ein positives Image.
Thema positives Image: Glauben Sie, dass die Tour in diesem Jahr sauber war?
Ich glaube, dass sie weitgehend sauber war. Die Kontrollen sind sehr streng, da hat der Radsport schon sehr viel geleistet und getan, aber die Hand würde ich trotzdem für keinen ins Feuer legen.
Sie sind einer der deutschen Radsport-Helden. Wie verfolgen Sie den Absturz von Jan Ullrich, der die Tour 1997 gewonnen hat, aber die Kontrolle über sein Leben verloren hat und mit wilden Alkohol-Eskapaden für Skandale sorgte?
Natürlich ist das erschütternd. Er wohnt ja nur drei Kilometer von mir entfernt. Das Haus steht jetzt zum Verkauf. Mein Sohn Björn...
Der Profi-Radfahrer ist.
Ja, er hat Jan in der Entzugsklinik besucht. Es war erschütternd. In der einen Sekunde ist Ullrich ganz normal, in der nächsten rastet er vollkommen aus, weil er eben so vollkommen unter Strom steht. Was Jan sich alles angetan hat, was er für ein Leben geführt hat, ich glaube, jeder andere wäre da tot. Wenn er nicht durch den Radsport letztlich so eine gute Konstitution hätte, wäre er schon unter der Erde. Da bin ich mir sehr sicher. Das ist erschütternd und tut auch irgendwo weh, auf der anderen Seite muss man sagen: Jeder ist letztlich für sein eigenes Leben und die Entscheidungen, die er trifft, verantwortlich.