Interview
Philipp Lahm: "Fußball gibt Leuten gewisse Normalität"
10. April 2021, 9:10 Uhr aktualisiert am 10. April 2021, 11:22 Uhr
Wenn Fußballer unter die Buchautoren gehen, löst das nicht immer einhellige Begeisterung aus. Auch Philipp Lahm erntete mit "Der feine Unterschied", das er 2011 noch als Kapitän der DFB-Elf veröffentlichte, mitunter heftige Kritik. Aber Lahm wäre nicht Lahm, wenn er sich dadurch von seinem Weg abbringen lassen würde. Mit der gleichen Konsequenz, wie er es auf dem Fußballplatz zu einem der besten Defensivstrategen der Welt gebracht hat, verfolgt der 37-Jährige seine Karriere nach der Karriere. Ein Gespräch mit dem Turnierdirektor der EURO 2024 nicht nur über sein neues Buch "Das Spiel", den FC Bayern und die Nationalmannschaft, sondern auch über Corona, die Werte, für die der Profifußball steht, und über das Coming-Out von homosexuellen Fußballern.
Herr Lahm, Sie haben für Ihr Buch "Der feine Unterschied" 2011 teils heftige Kritik geerntet. Was hat Sie veranlasst, erneut ein Buch zu schreiben?
Philipp Lahm: Meine Aufgabe als Turnierdirektor für die UEFA EURO 2024. Das Buch ist ein breiter Querschnitt durch alle Themen des Fußballs, es ist ein Sachbuch, das Eltern, Trainerinnen und Trainern sowie allen Fußballinteressierten einen Überblick vermittelt, wie ich das Spiel erlebt habe und wie ich auf die Welt des Fußballs blicke. Fußball ist ein Volkssport, und deshalb hat er eine Verantwortung und Vorbildfunktion gegenüber Kindern und Jugendlichen.
In Ihrem Buch geht es unter anderem um Werte, die der Fußball transportiert. Welche Werte sind das?
Lahm: Fußball ist ja für die meisten Menschen eine Freizeitbeschäftigung, die ihnen zunächst einmal eine ausgezeichnete Möglichkeit bietet, tolle Erfahrungen zu machen. Freundschaft, Bewegung, Aktivität, Gesundheit, Teamgeist und Gemeinschaft sind die Werte, die den Fußball ausmachen. Und bei Kindern ist es so, dass sie spielerisch den Umgang untereinander und Regeln lernen.
Wird der Profifußball diesen Werten aktuell gerecht?
Lahm: Ich will Profifußball nicht mit Amateurfußball vergleichen. Profifußball ist Unterhaltung auf höchstem Niveau. Wir haben in Deutschland eine attraktive Infrastruktur, tolle Stadien, und es kann schon wirklich Freude bereiten, ein Spiel in der Allianz Arena während der Champions League oder jetzt in wenigen Wochen beim Kampf um die Meisterschaft zu verfolgen. Im Augenblick ist das ja leider nicht möglich, weil wir Corona haben, aber selbst die Spiele am Samstag zu verfolgen, gibt den Leuten eine gewisse Normalität und Routine.
Was trauen Sie dem FC Bayern denn nach der letzten Saison, in der er praktisch alles gewonnen hat, dieses Mal zu?
Lahm: Na ja, das Triple ist ja nicht mehr möglich, weil die Bayern gegen Kiel im Pokal ausgeschieden sind. Die Meisterschaft und die Champions League sind durchaus noch drin (Das Interview fand vor dem 2:3 am Mittwoch im Viertelfinal-Hinspiel gegen Paris Saint-Germain statt, Anmerkung d. Red.).
Welchen Anteil hat Trainer Hansi Flick daran? Was zeichnet ihn aus?
Lahm: Hansi Flick hat aus dem FC Bayern in kurzer Zeit eine sehr schlagkräftige Truppe geformt. Und er hat die altbewährten Kräfte wieder in Szene gesetzt. Neuer, Boateng, Alaba, Müller und Lewandowski sind das Rückgrat der Mannschaft, die jungen Spieler mit Goretzka, Kimmich, Gnabry und Sané haben immer mehr Verantwortung. Dadurch hat der FC Bayern eine starke Mannschaft, und das ist sicher eine Leistung von Hansi Flick.
Der FC Bayern stand zuletzt nicht nur wegen seiner sportlichen Leistungen immer wieder im Fokus. Der FCB will auf der einen Seite Vorbild sein – Stichwort: Impf-Aussagen von Karl-Heinz Rummenigge – auf der anderen Seite schweigt er die Missstände in Katar tot. Wie passt das zusammen?
Lahm: Das muss nicht zusammenpassen: Wir leben in Zeiten von Corona, da müssen alle zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen, jeder muss seinen Beitrag leisten. Auf der anderen Seite geht es um die Missstände in Katar, einem Land, das ganz andere Einstellungen zum Leben hat, die mit unseren Wertvorstellungen nicht vereinbar sind. Ein sehr reiches Land, das in den letzten zwei Jahrzehnten sportliche Großveranstaltungen organisiert hat und auch große europäische Klubs wie Paris Saint-Germain finanziell unterstützt. Die Menschenrechte sind unantastbar und universell gültig, das steht außer Frage. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, wie man mit der Lage in Katar umgeht: an den Veranstaltungen teilzunehmen, das Land zu besuchen, sich mit den unterschiedlichen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen, oder die Veranstaltungen zu boykottieren und nicht ins Land zu reisen. Welche Lösung besser ist, um Veränderung herbeizuführen und die Situation der Menschen zu verbessern, ist nicht immer leicht zu sagen.
Die EM soll in diesem Jahr, jedenfalls noch nach derzeitigem Stand, in zwölf Ländern stattfinden. Kann man das in Zeiten der Corona-Pandemie verantworten?
Lahm: Im Augenblick kann man das nicht entscheiden, weil der Umgang mit Corona Woche für Woche neu verhandelt wird. Ursprünglich ist eine EM in zwölf Ländern eine charmante Idee. Wenn die Planungen wegen Corona angepasst werden müssen, liegen diese Entscheidungen nicht mehr bei der UEFA, sondern bei der Politik. Aber aktuell ist es immer noch so, dass die EM in allen Städten stattfinden wird und wir dabei mit unterschiedlichen Szenarien planen. Ich glaube nicht, dass wir bis zum Turnier eine 100-prozentige Auslastung der Stadien hinbekommen. Aber auf alles darunter setzen wir Hoffnung.
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde immer wieder viel über ein mögliches Comeback von Thomas Müller in der Nationalmannschaft diskutiert. Sollte Joachim Löw Thomas Müller mit zur EM nehmen?
Lahm: Jeder kennt und schätzt die Qualitäten von Thomas Müller, sei es für den FC Bayern oder die Nationalmannschaft. Der Bundestrainer hat sich nach der WM 2018 für einen Umbruch entschieden. Er hat Spieler wie Süle, Gnabry, Sané, Kimmich, Goretzka in die Pflicht genommen, dazu kommen noch Spieler wie Havertz, Werner, Kroos und Gündogan, die im Ausland bei Topklubs spielen. Thomas Müller ist immer eine Option, weil er ein exzellenter Spieler ist. Letztlich ist es eine Entscheidung des Bundestrainers, ob er den Faktor Thomas Müller in diesem Turnier ziehen will.
Noch mal zu Ihrem Buch: Sie warnen homosexuelle Fußballer darin vor einem Coming-Out. Wäre es nicht besser, sie zu diesem Schritt zu ermutigen, um den Profifußball dahingehend nachhaltig zu verändern?
Lahm: Ja, das kann auch eine Möglichkeit sein. Ich habe mich entschieden, auf die Gefahren hinzuweisen, die auf einen Spieler, meistens ja im Alter von 18 bis 35 Jahren, zukommen. Wenn man sich outen will, braucht dieser Schritt eine Vorbereitung, den Austausch mit Vertrauten und eine gute Begleitung. Es ist eine persönliche Entscheidung, ob und wie man damit in die Öffentlichkeit geht. Im Fußball und in der Gesellschaft hat sich einiges getan, aber wir sind noch nicht so weit, dass wir frei von Diskriminierung sind. Und mit den positiven Entwicklungen in der Gesellschaft findet Ausgrenzung zugleich immer stärker und schneller in der Öffentlichkeit über die sozialen Medien statt.