Unterwegs mit Hannelore Winbeck
Regensburgerin erzählt: Wie es ist, blind zu werden
5. April 2024, 18:56 Uhr
Klack, klack, klack - aus dem Meer an Stimmen, rollenden Koffern und Schritten sticht das rhythmische Klappern der Rolltreppe heraus. Eigentlich ist die Rolltreppe, die von den Gleisen in den Regensburger Hauptbahnhof führt, in Sichtweite, nur wenige Meter von Hannelore Winbeck entfernt. Doch Winbecks Sehvermögen gleicht "dem Blick durch eine Milchglasscheibe" - sie ist blind.
Mit ihrem Blindenstock tastet die 58-Jährige ihre Umgebung ab, auf der Suche nach den beiden dumpf-klingenden, metallenen Wänden, die die Rolltreppe einfassen. Mehrmals rollt die weiße Plastikkugel an der Spitze des Stocks auf dem glatt gezogenen Betonboden entlang - und stößt lediglich an Schuhe ihrer Vordermänner. Beförderte die Rolltreppe vor wenigen Minuten noch alle Reisenden ohne Wartezeit nach unten, hat sich nun eine Menschentraube hinter Winbeck gebildet.
Als sie von der Krankheit erfährt, fühlt sich Winbeck wie "im falschen Film"
Dass die Menschen hinter ihr dadurch warten müssen, tut ihr zwar leid, darf sie jedoch nicht zu stark beschäftigen. "Ich kann's nicht ändern, ich mach das beste draus" lautet ihr Credo, seitdem sie völlig blind ist. Das war nicht immer so. Mit 16 Jahren erfährt Winbeck, dass sie durch die Krankheit Retinitis pigmentosa im Laufe ihres Lebens ihr Augenlicht verlieren wird. "Ich war am Boden zerstört. Das war, als wacht man im falschen Film auf", erzählt die 58-Jährige. Durch die Krankheit sterben ihre Sehzellen auf der Netzhaut von außen nach innen ab. "Ich war psychisch ziemlich angeknackst, habe ganz lang versucht, zu überspielen, wie schlecht ich wirklich sehe."
Konzentriert pendelt Winbeck mit dem Blindenstock weiter über den Boden - links, rechts, ein kleiner Schritt nach vorne und das Ganze noch mal. Dann zwei dumpfe Schläge - sie hat den Beginn der Rolltreppe ausgemacht. Mit der rechten Hand greift sie den schwarzen Handlauf, setzt einen Fuß nach dem anderen auf die Rolltreppe und fährt nach unten, hinter ihr die Menschentraube.
Die Symptome der Krankheit steigerten sich bei Winbeck über die Jahre von einer Sehschwäche über Nachtblindheit bis zur Blindheit. Schon als Kind habe sie "bisschen schlechter" gesehen als der Durchschnitt, "aber wie schlecht, war niemandem bewusst". Trotzdem kam sie im Alltag zurecht, auch im späteren Studium - obwohl sie da bereits schwer sehbehindert war und nicht mehr lesen konnte, "was an der Tafel steht".
Trotz Handicap studiert Winbeck, arbeitet über 35 Jahre - und verdrängt
Viele Jahre habe sie versucht, die Krankheit zu verdrängen. "Mir war lieber, die Leute dachten, ich schwanke, weil ich besoffen bin, als dass sie von meiner Sehbehinderung erfahren." Trotz des Handicaps studiert sie und arbeitet über 35 Jahre als Sozialpädagogin, unter anderem in der forensischen Psychiatrie, bis sie vergangenes Jahr in Rente ging. "Ich habe immer wieder verdrängt, war wütend, traurig" - bis sie ihr Schicksal vor etwa zehn Jahren akzeptierte, als sie völlig erblindete. "Das ist ein riesen Prozess, den alle mit dieser Krankheit durchmachen", sagt sie, ohne einmal zu schlucken, als wäre es das Normalste der Welt.
Am Ende der Rolltreppe muss sie sich wieder "total konzentrieren", um den Ausgang aus dem Bahnhofsgebäude zu finden. Wieder winkelt sie ihre rechte Hand mit dem Blindenstock so weit ab, bis die weiße Kugel den Boden berührt, und beginnt zu pendeln - wieder ins Nichts. Der glatte Fliesenboden in der Bahnhofshalle gibt ihr kaum Orientierung.
Im Bahnhofsareal helfen ihr Gehör und hilfsbereite Passanten
Mit einem leichten Drall zur Seite setzt sie einen Fuß vor den anderen, bleibt immer wieder stehen und lauscht: Anhand der Geräusche versucht sie, den Menschen, die vor und hinter ihr zum Ausgang gehen, zu folgen. Die Blicke, die sie in der Bahnhofshalle auf sich zieht, reichen von Betroffenheit, Neugier, Überforderung bis Unbekümmertheit. Immer wieder huschen manche knapp vor ihrem Blindenstock vorbei. Doch einer bleibt stehen.
"Brauchen Sie Hilfe?", fragt ein Mann in verwaschener, blauer Jeans und grauer Sweatshirt-Jacke. Unter der Kapuze verbirgt sich ein Gesicht mit Stoppelbart und einer Zahnlücke in der Mitte des Oberkiefers - und eine Alkoholfahne. "Ich muss nur kurz zum Ausgang", sagt Winbeck selbstbewusst und höflich. Der Mann nimmt Handy und Plastiktasche in die linke Hand, reicht ihr seine rechte, führt Winbeck bis zur Schiebetür und geht wieder seines Weges.
Wenn sie alleine unterwegs sei, werde ihr häufig Hilfe angeboten, erzählt sie. Trotz der Alkoholfahne habe sie keine Angst, wenn sie Fremden wie dem Mann ausgeliefert ist, auch nicht vor dem stigmatisierten Bahnhofsklientel: "Der hat nichts verkehrt gemacht, mir ganz unkompliziert geholfen und nicht mehr als ich wollte".
Ausgenutzt oder beklaut worden wegen ihres Handicaps sei sie noch nie. Immer wieder habe sie trotzdem Negativerfahrungen gemacht: Kürzlich, als sie in der Albertstraße "wieder rumgeirrt" sei, habe ihr ein Passant Hilfe angeboten - und sie dann einfach stehen gelassen. Er sei nach einigen vergeblichen Versuchen überfordert gewesen, ihren Standort blindengerecht zu beschreiben und einfach weggegangen, erzählt sie.
Mehr Bermudadreieck als Brennpunktbahnhof
Ein weitaus größeres Problem ist für Winbeck die mangelnde Barrierefreiheit im Bahnhofsareal. Durch ihre Blindheit sei sie hauptsächlich auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen (neben Taxi und Begleitpersonen) und deswegen häufig im Bahnhofsviertel unterwegs. Die Strecke vom Busbahnhof in das Bahnhofsgebäude ist für sie "ein Riesenproblem". "Das ist für Blinde wirklich ein Bermudadreieck." Regelmäßig verlaufe sie sich im Bahnhofsareal und wünscht sich daher ein durchgängiges Leitsystem von den Bushaltestellen zum Bahnhofsgebäude. Bisher gibt es Leitlinien, spezielles Riffelplaster, nur an den einzelnen Haltestellen, aber nicht zusammenhängend.
In Bezug auf die Leitlinienproblematik verweist die städtische Pressestelle auf den Maßnahmenbeschluss für die anstehende Übergangssanierung des Bahnhofsvorplatzes. "Eine Leitlinie ist vorgesehen, um eine Orientierung auf dem Bahnhofsvorplatz und dessen Querung zwischen dem Bahnhofsgebäude und dem Beginn der Maximilianstraße zu erleichtern beziehungsweise zu ermöglichen", heißt es von der Pressestelle.
Vor allem die "Freiheit hinsichtlich Mobilität" - selbstständig ohne Hilfe von Außen unterwegs sein zu können - und die Gesichter zu den Stimmen, vermisse Winbeck, seitdem sie nicht mehr sehen kann. Von den Gesichtern würde sie eins besonders gerne wieder sehen: das ihres 19-jährigen Sohnes. Den hat sie zuletzt als Kind gesehen.
So viele Menschen sind sind in der Raum Regensburg sehbehindert
Seit 1920 setzt sich der bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) als Selbsthilfeorganisation für Teilhabe, Barrierefreiheit und Selbstbestimmung blinder und sehbehinderter Menschen ein. Bayernweit gibt es laut BBSB rund 17.000 Menschen, die blind oder sehbehindert sind. 60 Prozent von ihnen sind über 65 Jahren alt. Rund 600 der Menschen, die beim BBSB gemeldet sind, leben in Stadt und Landkreis Regensburg, erklärt Rudolf Pichlmeier von der BBSB Bezirksgruppe Oberpfalz. Er betont jedoch, dass die Zahlen lediglich Schätzungen sind, da es eine "hohe Dunkelziffer" gibt. In der ganzen Oberpfalz gibt es laut Pichlmeier rund 2.000 Blinde und Sehbehinderte.
Dieser Artikel wurde mit dem Attenkofer-Zukunftspreis 2024 ausgezeichnet.