Flucht in ein neues Leben
Joan ist vor dem Krieg geflohen – wie der junge Syrer den deutschen Alltag erlernt
7. April 2015, 13:58 Uhr aktualisiert am 7. April 2015, 13:58 Uhr
Joan Ali besucht die elfte Klasse der Berufsschule III in Straubing. Er ist 18 Jahre alt. In seiner Freizeit spielt er gerne Fußball. Joan stammt aus Syrien. Vor acht Monaten ist er nach Deutschland geflohen. Seine Familie musste er im Krieg zurücklassen.
Joan hält sich mit beiden Armen am Beckenrand fest. Sein Kopf schaut knapp aus dem Wasser heraus. Mit unsicheren Beinschlägen versucht er sich über Wasser zu halten. Neben ihm strampeln fünf junge Männer im Wasser. Ein Schwimmtrainer gibt ihnen gerade neue Anweisungen. Er zeigt ihnen, wie sie die Füße richtig bewegen. Der 18-jährige Joan macht zusammen mit seinen Mitbewohnern des Jugendwohnheimes der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Straubing einen Schwimmkurs. Im Straubinger Hallenbad lernt die Gruppe Brustschwimmen. Doch das ist nicht das einzige, was Joan lernen muss. Er versucht sich, in vielen Lebensbereichen über Wasser zu halten.
Ein Haus voller Geschichten
15 junge Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern leben in der AWO-Wohngruppe in Straubing. Joan teilt sich ein Zimmer mit Barzan. Er ist auch aus Syrien. Viele der jungen Flüchtlinge machen Sport. Joan spielt Fußball bei einem Straubinger Verein. In Syrien hat der 18-Jährige sechs Jahre gekickt. Wenigstens etwas, das Joan in Deutschland nicht neu lernen musste. Dafür etwas anderes und sehr wichtiges: die deutsche Sprache.
Montagmorgen. Um acht Uhr startet der Unterricht in der Berufsschule III in Straubing. Hier hat Joan Deutschunterricht. Auch Mohamed und Rithwahn aus der AWO-Gruppe gehen in diese Schule. Zehn Schüler - alle aus dem Ausland - sind in der Klasse. "Stellt die Stühle zu einem Kreis zusammen. Ich möchte wissen, wie euch euer Praktikum in der vergangenen Woche gefallen hat", fordert die Deutschlehrerin die Klasse auf. Nacheinander erzählen die Schüler von ihren Erlebnissen. Manche tun sich mit der deutschen Sprache noch schwer, andere sprechen schon flüssig. Joan hat sein Praktikum bei einer Straubinger Maschinenbaufirma gut gefallen. Er hat mit einer kleinen Maschine Löcher in verschiedene Platten gebohrt. Der Syrer hofft, dass er dort noch länger ein Praktikum machen kann.
Dann machen die Schüler eine kleine Übung zur Nominalisierung von Verben. Die Lehrerin beginnt mit einem Beispiel: "Transportieren. Nominalisiert heißt es ,das Transportieren'. Ein anderes Nomen dazu ist ,der Transport'." Das nächste Verb ist "lagern". Joan gibt die richtige Antwort: "Das Lagern, die Lagerung." "Gut gemacht", lobt die Lehrerin. "Bitte bilde noch einen Satz mit dem Verb!" "Ich lagere das Buch in meiner Schultasche", antwortet Joan. Er ist ein guter Schüler.
Kochen in Gemeinschaft
Der Unterricht in der Berufsschule III ist speziell an ausländische Schüler angepasst. In zwei Schuljahren bereiten die Lehrer zwei Klassen auf das Arbeitsleben in Deutschland vor. In der elften Klasse ist der Unterricht zweigeteilt. Jede zweite Woche machen die Schüler von Dienstag bis Freitag ein Praktikum.
Mittlerweile hat Joans Klasse Kochunterricht. Heute bereiten die Schüler ein Fischgericht zu. Die Kochlehrerin, zeigt ihnen den Fisch: "Das ist ein Rotbarschfilet. Kennt ihr diesen Fisch?" Die Schüler schütteln den Kopf. "Heute werdet ihr ihn kennenlernen", kündigt die Lehrerin mit einem Lächeln an. Sie teilt jedem Schüler ein Rezept aus. Die Jugendlichen sollen das Fischfilet zusammen mit Gemüse in Alufolie im Ofen garen lassen. Dazu bereiten sie Kartoffelgratin, Gurkensalat und als Nachspeise Bananenjoghurt zu.
Narbe mit Erinnerungen
Joan stammt aus Qamischli, einer Stadt im Nordosten von Syrien. Zwölf Jahre ist er dort zur Schule gegangen und besitzt einen syrischen Schulabschluss. Junge Männer, die die Schule beendet haben, sind das Ziel von al-Quaida. Die Terrororganisation will sie für den Krieg gewinnen, der in dem Land tobt. Joan hat in seinem Heimatland in großer Angst gelebt. Er hat viel Schreckliches gesehen und erlebt: Menschen, die tot auf dem Boden lagen, kleine Kinder, die hilflos schrien, ein Freund, der entführt wurde - die Angst vor al-Quaida ist groß. Deshalb ist der junge Syrer geflohen. Seine Eltern haben ihn dabei unterstützt.
Ein Bekannter der Familie half dem jungen Mann bei der Flucht. Zusammen mit ihm kam er bis zur türkischen Grenze. Dort schlug ein türkischer Polizist den jungen Syrer brutal aufs Knie. Joan konnte sein Bein kaum mehr bewegen und schleppte sich zurück zu seiner Familie. Dann startete er einen zweiten Versuch. Er schaffte es bis in die Türkei. Joan hatte große Angst. Er wollte so schnell wie möglich weiter. Sein Ziel: Deutschland. Mit dem Bus kam er bis nach Istanbul. Dann ging es mit dem Auto und zu Fuß weiter. Zusammen mit dem Mann, mit dem er die Flucht begonnen hat, kam er nach etwa einer Woche in Passau an. Er ging zur Polizei und erklärte, dass er aus Syrien stammt und geflohen ist. 15 Tage blieb Joan in Passau, dann kam er in das AWO-Jugendwohnheim in Straubing.
Eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe am Knie erinnert den 18-Jährigen heute an seine Flucht. "Hier gibt es Demokratie und Regeln. Ich bin froh, in Deutschland zu sein", sagt der junge Mann. Zurück nach Syrien will er nicht. Joan hofft, dass seine Familie irgendwann nachkommt. Immer wieder hat er Kontakt zu ihnen. Manchmal gibt es gute Nachrichten, manchmal schlechte.
Brustschwimmen lernen
Joan isst mit der Gruppe heute früh zu Abend. Denn es steht noch etwas an: Schwimmkurs im Straubinger Hallenbad. Sechs Jugendliche aus der Wohngruppe nehmen daran teil. Es ist die erste von insgesamt zehn Übungsstunden. Nach dem Schwimmtraining ist Joan zuversichtlich. Der junge Syrer glaubt, dass er schon bald gut schwimmen kann. Dann kann er sich auch in diesem Bereich über Wasser halten.