Regenburg
Turmfunk: Für den Jahn auf Sendung
26. November 2019, 17:59 Uhr aktualisiert am 26. November 2019, 17:59 Uhr
Es gehört Herzblut dazu, einem Fußballverein treu zu bleiben. Die Jungs vom Fanradio des SSV Jahn Regensburg kommentieren ehrenamtlich jedes Spiel des Vereins. Dabei fließt gern auch mal Spezi auf die Laptop-Tastatur.
Andreas Lautenschlager schreit. Seine Stimme überschlägt sich. "Toooor", rufen er und ich im Chor. Um ihn herum springen 11.000 Personen auf, und schreien auch. Menschen liegen sich in den Armen. Es ist Fußball, zweite Liga, es ist Samstag und der Jahn spielt. Andreas Lautenschlager, 32, von allen nur Andi genannt, sitzt hinter einem Mikrofon und kommentiert das Spiel für den Turmfunk, das Fanradio des SSV Jahn Regensburg. Ehrenamtlich, aus Spaß an der Freude. Weil er Fan ist, seit er als Zehnjähriger mit Kumpels zu den Spielen gegangen ist. Ich sitze neben ihm, ich bin seit Oktober 2018 ebenfalls ehrenamtlich beim Turmfunk, und kommentiere heute mit Andi.
Besonderes Spiel
Wenige Momente zuvor: Seit 58 Minuten läuft das Heimspiel des Jahn gegen den SV Sandhausen. Zehnter Spieltag, zwei eher kleinere Clubs der zweithöchsten deutschen Profiliga, eigentlich ein ganz normales Spiel. Aber für den Jahn ein Besonderes: Der Verein wurde 1889 gegründet, feiert an diesem Tag sein 130-jähriges Jubiläum. Die Fanszene hat zu diesem Anlass eine Choreographie vorbereitet, die sich über drei Tribünen erstreckt. Sämtliche Fans schwenken vor dem Spiel rote und weiße Fahnen, ein Block-Banner wird auf der Hans Jakob Tribüne aufgezogen. "SSV Jahn seit 1889" steht riesig darauf. In die Jahreszahlen sind Szenen aus der Vereinshistorie aufgemalt. Andi und ich sind so fasziniert, dass wir beinahe verpassen, rechtzeitig mit der Radioübertragung zu beginnen. "Wir sind geflasht von der Atmosphäre hier im Stadion, es schaut überragend aus", sagt Andi zur Entschuldigung, und ich beginne mit den Aufstellungen der Teams.
Seit 2015 gehe ich zu den Spielen des Jahn. Die Saison in der Regionalliga 2015/16, als der Verein im nagelneuen Stadion in der vierten Liga spielen musste, hat mich gepackt. So sehr, dass ich mich 2017 entschlossen habe, ein Praktikum in der Medienabteilung des SSV Jahn zu machen. Dort kommt man zwangsläufig mit den Funkern in Kontakt. Man befand mich für tauglich, und der Turmfunk suchte gerade Nachwuchs. Also ging es im Oktober 2018 im Auswärtsspiel gegen Fürth los. Ein gutes Dutzend Spiele habe ich in meiner Turmfunk-Zeit bisher kommentiert. Die Nervosität der ersten Male ist nicht mehr da, die Abläufe sind klar. Andi und ich spielen uns die verbalen Bälle zu. "Das Spiel wird heute keinen Schönheitspreis gewinnen", sage ich angesichts des umkämpften Spiels in der ersten Halbzeit ins Mikrofon. Andi bleibt aber zuversichtlich: "Ich nehm' alles, was ich kriegen kann, und wenn's auch nur ein dreckiger Sieg ist. Ich bin da schmerzfrei".
Von Fans für Fans
Andi ist Gründungsmitglied des Turmfunks. Ein Projekt von Fans für Fans, initiiert nach dem Abstieg des Jahn aus der zweiten Liga 2013. Denn das bedeutete: keine Live-Spiele mehr im Fernsehen. "Unser Initiator Fabian Raithel ist Jahn-Fan, wohnte aber damals in Berlin. Er wollte eigentlich gar nicht selbst kommentieren, sondern einfach die Spiele live im Radio hören", sagt Andi. Turmfunk heißt es deshalb, weil im alten Regensburger Stadion, von 1926 bis 2015 Heimat des Vereins, die hartgesottenen Fans am "Turm" standen - der Anzeigentafel auf der Gegengeraden.
Sechs Personen fanden sich über ein Online-Forum nach dem Aufruf. Seit August 2013 gibt es den Turmfunk, damals war Premiere auswärts gegen den MSV Duisburg. Das simple Prinzip: Jedes Spiel wird "gefunkt", ob auswärts oder zuhause, mit zwei Kommentatoren. Das klappt bis heute, auch wenn dabei Fahrten bis nach Kiel oder Hamburg anstehen. Im Medienbus des Vereins können die Turmfunker gratis mitfahren.
Andi hat das zeitintensive Hobby nicht geschadet: Seit einigen Wochen ist er verlobt. "Meine Freundin steht total dahinter", sagt er. Im Alltag arbeitet er bei der Stadt Regensburg. Natürlich macht er sich Gedanken, wie lange er noch alle paar Wochen einen Nachmittag opfern soll - die Mehrzahl der Turmfunker sind mittlerweile jenseits der 30. Über die Jahre sind zumindest einige neue Mitglieder hinzugekommen - ich zum Beispiel. Acht regelmäßige Funker zählt das Turmfunk-Team derzeit.
Das ist nicht selbstverständlich. Gerade in der Anfangszeit des Fanradios durchlebte der Club ein Auf und Ab, nach zwei Jahren in der dritten Liga folgte 2015 gar der bittere Absturz in die Viertklassigkeit. "Die Abstiegssaison war der Tiefpunkt meiner Turmfunk-Zeit. Eine einzige Enttäuschung, eine Saison für richtige Grantler", sagt Andi dazu.
Derzeit acht Funker
Der Jahn wollte danach unbedingt wieder aus der Viertklassigkeit aufsteigen, hatte viele Spieler aus der dritten Liga gehalten. Ausgerechnet beim Rivalen Wacker Burghausen fiel die Vorentscheidung für die Aufstiegs-Playoff-Spiele: 1:0 für den Jahn in der 77. Minute durch einen Kopfball - der spätere Endstand. Der Turmfunk war dabei, feucht-fröhlich. "Und Spezi aufm Laptop - auch egal" brüllte der Funker Simon Raab damals ins Mikro. Die Medienabteilung des Vereins stellte den Mitschnitt für die Schlussphase der Saison als Motivation auf Facebook.
Den Turmfunk hören pro Spieltag zwischen 200 bis 300 Hörern, bei Auswärtsspielen sind es immer etwas mehr. Dazu klicken die Hörer die Seite www.turmfunk.net an, auf der sich ein Webplayer befindet. In den Schlussphasen steigt erfahrungsgemäß die Zahl der Hörer noch einmal an. So auch heute gegen Sandhausen. Es ist spannend. Denn der Jahn führt seit der 58. Minute. Eine Flanke vom Jahn-Außenverteidiger Chima Okoroji kann Stürmer Marco Grüttner per Kopf abnehmen. In einem langen Bogen senkt sich das Leder wie in Zeitlupe ins lange Eck. "Total aus dem Nichts", sagt Andi danach: "Der Jahn total zurückhaltend und dann kommt da dieses Mördergerät."
Aber in der Schlussphase drücken die Sandhausener auf den Ausgleich. "In höchster Not geklärt", sagt Andi bei einer guten Gelegenheit der Gäste: "Da wär' die Herrlichkeit ganz schnell vorbei gewesen." Fünf Minuten lässt der Schiedsrichter nachspielen. Sandhausen kommt noch einmal gefährlich vors Tor. Eine hohe Flanke segelt in den Strafraum, der Ball prallt ab. Der Schuss eines Sandhausener Spielers fliegt knapp oben rechts am Tor vorbei. "Ohhhhh", entfährt es Andi und mir. Doch ist das Spiel immer noch nicht vorbei. "Schiri, wie schaut's aus? Langsam können wir abpfeifen", meint Andi. Neutral muss der Turmfunk nicht sein. Das ist klar, wenn Fans für Fans kommentieren.
Nach dem Spiel: Über das Feld
Danach ist endlich Schluss. "Schön war's nicht, aber wir haben es uns verdient, die Mannschaft hat alles investiert und ein verdientes 1:0 erkämpft", sagt Andi. "Wir verabschieden uns für heute, macht es gut, ein schönes Wochenende", schicke ich noch einen letzten Gruß an die Zuhörer. Dann bauen wir ab, packen Laptop, Kopfhörer, Verteilerdose zusammen und verlassen unseren Platz auf der Gegengerade des Stadions.
Nach Spielende dürfen Andi und ich über das Fußballfeld gehen, den direkten Weg zu den Katakomben. Die Fans singen "rot-weiße Fußballwelt, viel mehr Wert als Geld". Einen kurzen Moment bleibt Andi am Mittelkreis stehen und schaut sich an, wie Spieler vor der Tribüne mit den Fans feiern. "Das ist doch geil", sagt er zu mir, und wir gehen in den Medienbereich des Stadions. Schluss für diesen Tag - aber eine Woche später beim Auswärtsspiel in Nürnberg wird sie weitergehen, die Geschichte des Turmfunks.
Am Spieltag können Hörer unter www.turmfunk.net einschalten. Die Übertragungen beginnen in der Regel fünf Minuten vor Spielbeginn.