Plattling

Flüchtlingsschicksal: Seine Kindheit endete mit elf Jahren


Um sich in Plattling verständigen zu können, paukt Mohammad Reza Amiri täglich deutsche Vokabeln. Klappt es mit der Kommunikation dennoch nicht, hilft ihm Betreuerin Mandana Stelzl als Dolmetscherin. (Fotos: L. Meier)

Um sich in Plattling verständigen zu können, paukt Mohammad Reza Amiri täglich deutsche Vokabeln. Klappt es mit der Kommunikation dennoch nicht, hilft ihm Betreuerin Mandana Stelzl als Dolmetscherin. (Fotos: L. Meier)

Von Redaktion idowa

Er flüchtet im Kindesalter von sechs Jahren mit der Familie aus dem geliebten Heim. Mit elf Jahren verdiente er seinen Lebensunterhalt selbst. Der 17-jährigen Mohammad Reza Amiri hat viel mitgemacht, bis er einen friedlichen Platz zum Leben gefunden hat. Einen Platz in Bayern.

Der ruhige, zurückhaltende, aber doch hilfsbereite und in der Gruppe beliebte Bursche hat im Luna Park in Plattling ein festes Dach über dem Kopf, ein sauberes Bett und genug zu Essen. Doch das war nicht immer so. Mit traurigem Blick und leiser Stimme berichtet er. Im September 1997 kommt er in einem kleinen Dorf in Afghanistan auf die Welt. Mit zwei Schwestern und zwei Brüdern lebt er bei seinen Eltern, die eine Landwirtschaft betreiben. Einige Jahre später folgt eine dritte Schwester.


Wegen der Taliban aus Afghanistan in den Iran
Im Jahre 2003 widerfährt der Familie Schlimmes, denn sein Vater wird von den Taliban als Fahrer zwangsrekrutiert. Sich zu weigern ist unmöglich, ja sogar lebensbedrohlich. Die kommenden Monate in ständiger Gefahr und Angst stellen für Eltern und Kinder eine Tortur dar. Es bleibt nur eins: die Flucht. Die Flucht aus dem eigenen Land, die Flucht aus der geliebten Heimat. Mohammad Reza Amiri ist zu diesem Zeitpunkt gerade mal sechs Jahre jung. Das Ziel der Familie lautet Teheran im Iran, um wieder Fuß zu fassen. Sein Vater arbeitet dort als freiberuflicher Blumenhändler, Reza besucht eine Schule, die er bald wieder verlassen muss, da in Teheran keine afghanischen Staatsbürger unterrichtet werden dürfen. Deshalb schicken ihn seine Eltern zu Verwandten in die Stadt Ghom, wo es eine afghanische Schule gibt, die Reza bis zum Abschluss der neunten Klasse besucht. Weder die Familie noch seine Verwandten können den Burschen finanziell unterstützen. Deshalb sucht er sich mit elf Jahren eine Arbeit, um seinen Schulbesuch bezahlen zu können. "Ich wollte mir etwas gönnen, das auch andere Kinder hatten", sagt Reza zum Teil in gebrochenem Deutsch, zum Teil in seiner eigenen Landessprache, was Betreuerin Mandana Stelzl übersetzt. Jede Tätigkeit nimmt der Bub an, um sein Leben erträglich zu gestalten. "Ich wollte so gerne ein Fahrrad haben, vor allem um zur Schule fahren zu können", fügt der Junge an, steht auf, holt ein Glas und schenkt Apfelschorle für die am Tisch Sitzenden ein.

Harte Jahre stehen dem damals Elfjährigen bevor. Es stört ihn sehr wohl, als Kind schwer am Bau oder auf den Feldern schuften zu müssen. Am Vormittag Schule, am Nachmittag Arbeit, am Abend Hausaufgaben - und das mit Blasen und Schwielen an den Kinderhänden. Doch Reza beißt die Zähne zusammen, er will unbedingt seinen Schulabschluss machen und nebenher Geld verdienen. Und manchmal aber doch nur einfach ein Kind sein. Schöne Momente gibt es für Reza nur vereinzelt - kein Spielen mit anderen Kindern, keine Süßigkeiten, keine Freude. Das Lachen hat er schon lange verlernt. Das Leben im Iran stellt sich als genauso schwierig und zum Teil gefährlich heraus wie in Afghanistan.

Drei Monate zu Fuß und mit dem Zug unterwegs

Mittlerweile ist Reza 17 Jahre alt und am Ende seiner Kräfte angelangt. Eigentlich möchte die Familie wieder in die alte Heimat zurück. Doch die Situation in Afghanistan wird wegen der Taliban immer brenzliger. Reza entscheidet sich nun für einen waghalsigen Schritt. Für die letzte Möglichkeit, die er für seine Zukunft sieht. Er entschließt sich zur Flucht nach Deutschland. Ein leidensvoller und gefährlicher Weg beginnt. Drei Monate ist er mit einem Freund unterwegs.

Die Strecke führt die beiden Jungen vom Iran in die Türkei, durch Griechenland nach Mazedonien, über Serbien, Ungarn und Österreich nach Bayern. Angst und Hunger begleitet ihre Odyssee. Die Strecken im Zug sind einigermaßen erträglich, doch die Wege zu Fuß über unwegsames, steiniges Bergland machen ihnen zu schaffen. Das bisschen Geld, das sich Reza und sein Freund zwischendurch verdienen, müssen sie zusammenhalten - für später, wenn sie - so hoffen sie inständig - in Deutschland ankommen. Hunger war deshalb ihr ständiger Begleiter. Zu Essen und Trinken gab es ausschließlich Wasser und Brot. Angst beschleicht sie, wenn sie sich in dunklen, oft verregneten Nächten auf den Boden in Parks zum Schlafen legen. An Schlaf war jedoch kaum zu denken. Reza und sein Freund schafften es trotzdem, nach Deutschland zu flüchten. Angst und Ungewissheit weichen der großen Hoffnung.

Die erste Station der Buben ist eine Flüchtlingsaufnahmestelle in Salzweg im Landkreis Passau, bevor sie nach Hengersberg gebracht werden. Als Minderjähriger kommt Reza vor zweieinhalb Monaten in das Flüchtlingsheim für unbegleitete Jugendliche im Luna Park. Hier fühlt er sich wohl und gut aufgehoben. Mittlerweile hat er sich von den Strapazen der Flucht erholt und auch sein Lachen ist zurückgekehrt. Das Lachen verschwindet aber aus seinem Gesicht, sobald Reza an seine Familie denkt, mit der er nur sporadisch per Handy in Verbindung treten kann. Die Sehnsucht nach seinen Eltern und Geschwistern ist riesig.

Doch sein Leben geht in Plattling weiter. "Ich möchte gut Deutsch lernen, fleißig arbeiten und etwas aus meinem Leben machen", bekräftigt er. "Man hat mir gesagt, ich muss eine Ausbildung machen, um eine gute Arbeit zu bekommen." In Plattling meint es das Glück gut mit ihm: Schon fünf Wochen nach seiner Ankunft tritt er eine Praktikumsstelle in einem Friseursalon an. Salonleiterin Silvia Oeser zeigt sich mit Rezas Leistungen zufrieden, weshalb sie ihn nach eigenen Angaben gerne behalten möchte. In Kürze darf Reza die Friseurklasse an der Berufsschule St. Erhard besuchen, nebenher kann er im Salon ein Langzeitpraktikum absolvieren. "Um Deutsch in Wort und Schrift richtig zu erlernen", wie Oeser erläutert. Ab 1. August 2016 besteht für ihn sogar die Möglichkeit, seine Ausbildung in diesem Friseursalon zu beginnen. Wichtige Schritte, die Reza für ein Leben in Deutschland bereits gemacht hat.

Darf der Jugendliche im Luna Park bleiben ?

Obwohl sich Reza im Jugendheim gut eingewöhnt und viele Freunde gefunden hat, besteht für ihn noch eine große Sorge. Da er im September 18 Jahre alt wird, kann es sein, dass er die Unterkunft im Luna Park verlassen muss. "Allein der Gedanke daran bringt mich um", sagt Reza mit Tränen in den Augen. Inständig hofft er, im Luna Park bleiben zu dürfen. Seine größte Sorge ist es, seine Praktikumsstelle zu verlieren, sollte er in eine andere Stadt oder gar in einen anderen Landkreis umsiedeln müssen. Den ständigen Aufenthalt im Jugendheim kann ihm auch Josef Ehrl, Sprecher des zuständigen Landratsamtes, nicht versichern. Laut Ehrl wird jedoch darauf geachtet, dass Praktikum und Ausbildung durch eine Verlegung des Asylbewerbers nicht gefährdet werden. Vielleicht darf er bleiben. Sollte sein Platz aber benötigt werden, sollte ein jüngerer Flüchtling stärker auf die Betreuung oder die Alphabetisierungsmaßnahme im Luna Park angewiesen sein, müsse man die Situation abwägen.

So ist es nicht sicher, ob Plattling die letzte Station von Mohammad Reza Amiris Flucht aus dem kleinen Dorf in Afghanistan bleibt.