Russland
Kremlchef Putin stellt Weichen für Präsidentschaftswahl
20. Februar 2023, 12:11 Uhr aktualisiert am 20. Februar 2023, 12:13 Uhr
Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine will Kremlchef Wladimir Putin an mehreren Fronten gleichzeitig Härte zeigen. Auf dem Schlachtfeld hat der 70-Jährige das Ziel, nicht nur die am 24. Februar 2022 überfallene Ukraine zu bezwingen. Er will gleich noch den gesamten "kollektiven Westen" mit den USA an der Spitze zurückdrängen, der mit Waffen Russlands Soldaten zusetzt und mit Sanktionen der Wirtschaft der Rohstoff-Großmacht.
Putin sieht sich längst in einem großen Krieg gegen ein "Anti-Russland" im Westen - den er als Anführer der Atommacht um jeden Preis gewinnen will. "Natürlich, es kann ein langer Prozess werden", meinte Putin im Dezember bei einem Treffen mit Kriegsveteranen. Und Moskaus Machtelite stellt sich ein Jahr vor der Präsidentenwahl darauf ein, dass der seit mehr als 23 Jahren regierende Putin im nächsten Jahr wieder antreten wird. Die Vorbereitungen auf die Wahl im März 2024 laufen bereits. Aber Putins viele Niederlagen in der Ukraine haben ein Jahr nach Kriegsbeginn und gut ein Jahr vor der Wahl auch innenpolitisch eine Front aufgemacht.
Der "Blitzkrieg" für eine Eroberung der Ukraine ist gescheitert. Jahrzehntelang aufgebaute Beziehungen mit dem Westen etwa bei der Gasversorgung Europas sind zerstört. Putin, der sich stets brüstete, das Land nach den chaotischen 1990er Jahren wieder auf die Beine gebracht zu haben, muss zuschauen, wie sein Lebenswerk zusammenbricht, sich erneut soziale Not breitmacht.
Trotzdem spricht der Präsident von Erfolgen in dem Krieg - davon etwa, dass Russland jetzt die komplette Kontrolle über das Asowsche Meer erlangt hat. Zar Peter der Große, mit dem sich der Kremlchef gern vergleicht, habe im 18. Jahrhundert noch um einen Zugang zum Meer gekämpft. Zudem weist Russland gerne darauf hin, die Wasserversorgung der schon 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim - von der Ukraine lange blockiert - freigeschlagen zu haben.
Vor allem aber lobt Putin die Eroberung "neuer Gebiete" im Osten und Süden der Ukraine als "ein bedeutendes Ergebnis für Russland". Den Krieg will er mindestens so lange fortsetzen, bis Moskau die völkerrechtswidrig annektierten Regionen Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk vollständig kontrolliert. Das kann Jahre dauern - wenn es überhaupt gelingt.
Dagegen sehen Experten eine Vielzahl von Fehlern des Ex-Geheimdienstchefs, der in militärischen Dingen als Laie gilt. Kritik an einer zu zögerlichen Kriegsführung gibt es auch immer wieder von ultranationalistischen Kräften, Militärbloggern und der "Vorschlaghammer-Kriegspartei" um die Privatarmee Wagner des Geschäftsmanns Jewgeni Prigoschin. Kritiker ätzen, die von Korruption geprägte russische Armee sei als "Papiertiger" entlarvt worden. Aber das russische Militär lernt.
Lange scheute sich Putin, die unpopuläre Teilmobilmachung anzuordnen, um die Truppen zu stärken - und tat es dann doch. Hunderttausende Reservisten setzten sich ins Ausland ab. Die von einer Vielzahl von Pannen überschattete Aktion trug den Krieg in viele Familien. Es gab Proteste. Doch ungeachtet Tausender Toter in dem Krieg genießt Putin laut Umfragen weiter großes Vertrauen in der Bevölkerung, dass er das Richtige tut. Er sieht - wie er unlängst sagte - den Krieg inzwischen auch als Chance, die Armee zu modernisieren. Schon jetzt gehen die Militärausgaben aber zulasten der Entwicklung der Gesellschaft.
Angesichts der massenhaften Abwanderung junger Menschen, die keine Perspektive unter Putin sehen, spricht der russische Experte Andrej Kolesnikow von einem "zweiten, leisen Krieg Russlands gegen sein menschliches Kapital". Viele würden vor einer "Militarisierung des Lebens" in Russland fliehen, schreibt er in einer Analyse für die Denkfabrik Carnegie. "Für den Staat ist heute das Zerlegen und das Zusammensetzen eines Kalaschnikow-Sturmgewehrs eine wichtigere Fähigkeit." Statt modern denkender Menschen bringe das Land nun folgsame Befehlsempfänger hervor.
Ein Jahr vor der Präsidentenwahl zielt Putin immer stärker darauf ab, seine Invasion in die Ukraine zu einem Krieg gegen den "kollektiven Westen" hochzustilisieren. Dem Westen die Stirn zu bieten, ist ein alter Wahlkampfschlager des Kremlchefs. In Russland ist die Meinung weit verbreitet, Ziel des Westens sei es, das flächenmäßig größte Land der Erde mit seinem Öl, Gas und anderen Rohstoffen in Einzelteile zerfallen zu lassen, um die Ressourcen dann maximal auszubeuten.
Wer in Moskau Staatsfernsehen schaut, bekommt es von der Kremlpropaganda rund um die Uhr: Russland kämpfe gegen westliches Vormachtstreben. Dabei gerät immer mehr in den Hintergrund, dass Russland die Ukraine überfallen hat - und nicht der Westen Russland. Deutschland, die USA und andere, die Waffen liefern, sehen sich als Kriegsparteien angeprangert. Glauben sollen die Menschen, dass Russland selbst in seiner Existenz bedroht sei. So könne aus Putins Krieg gegen die Ukraine einer des russischen Volkes gegen den Westen werden, warnt der in London lebende Kremlgegner Michail Chodorkowski.
Der 59-Jährige sieht die Gefahr eines Auseinanderbrechens Russlands im Konflikt mit dem Westen - wie der Sowjetunion nach dem Ende des Kalten Krieges. "Die Grenzen zwischen einzelnen Objekten der Russischen Föderation könnten bei einem Zerfall des Landes schnell heiß werden. Und wegen der Atomwaffen ist das überaus gefährlich", sagt der einst reichste Russe, der Jahre wegen Kritik an Putin im Straflager saß. "Wir müssen eine Balance zwischen Chaos und einer Variante mit einer normalen Zukunft finden."
Unabdingbar seien aber revolutionäre Veränderungen in Russland und eine offene Reue und Wiedergutmachung nach einem Ende des Krieges in der Ukraine, betont Chodorkowski. Er plädiert im Westen - wie zuletzt als Gast der Münchner Sicherheitskonferenz - dafür, zu Russland und den Russen weiter Kontakte zu halten. "Aber man darf nicht darauf setzen, dass es einen neuen guten Zaren gibt, sondern auf eine Änderung der Machtstrukturen im Land zugunsten eines parlamentarischen und föderalen Systems", sagte er. Doch ist eine Abkehr von einem zentralistischen Staat mit dem Kreml als Machtzentrum nicht in Sicht.
Aus Sicht des russischen Politologen Abbas Galljamow hat sich der Kremlchef durch immer neue Repressionen auf den Weg eines "Diktators" begeben, der auf Gedeih und Verderb seinen Geheimdiensten und anderen Sicherheitsstrukturen ausgeliefert sei. Putin habe die "goldene Regel" autoritärer Herrschaft vergessen, die Macht zu verteilen, sagt sein früherer Redenschreiber. "Selbst der dümmste General wird dann einmal verstehen, dass er selbst der Stützpfeiler der Macht ist", sagt Galljamow. Lange habe Putin Militär und Polizei selbst kontrolliert, nun sei er deren "Geisel". Nur durch "grobe Gewalt" könne Putin sich noch an der Macht halten.