Bundesfamilienministerin im AZ-Interview
Giffey: "Homeschooling und Beruf war auch bei uns nicht einfach"
22. Juni 2020, 14:53 Uhr aktualisiert am 22. Juni 2020, 14:53 Uhr
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) über Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Pandemie, über finanzielle Hilfen und die Suche nach einem SPD-Kanzlerkandidaten.
SPD-Politikerin Franziska Giffey (42) ist seit dem 14. März 2018 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Von 2015 bis 2018 war sie Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln.
AZ: Frau Giffey, die Corona-Krise und der Lockdown haben Familien teils extrem belastet. Jetzt zahlt die Bundesregierung eine Prämie von 300 Euro pro Kind. War's das?
FRANZISKA GIFFEY: Nein, das war es natürlich nicht. Wir haben ja ein ganzes Paket an Maßnahmen für die Familien in Deutschland beschlossen. Zum Beispiel die milliardenschweren Investitionen in den Ausbau von Kitas und Ganztagsschulplätzen, die Mehrwertsteuersenkung und die Verdoppelung des steuerlichen Entlastungsbetrags für Alleinerziehende. Schon am 1. April, ganz kurz nach dem Lockdown, haben wir den Notfallkinderzuschlag verfügbar gemacht für Eltern, die Einkommenseinbußen haben. Und diese 300 Euro sind ja auch keine Gegenleistung für nicht vorhandene Kinderbetreuung. Wir sprechen über einen Kinderbonus, der die Kaufkraft in den Familien stärken soll, um die Konjunktur kurzfristig anzukurbeln, das ist etwas völlig anderes.
Giffey: "Es war notwendig, Schulen und Kitas zu schließen"
Warum wird der Bonus dann nicht auch für sogenannte Besserverdiener gezahlt?
Erst mal bekommen ihn alle mit dem Kindergeld überwiesen, aber wir haben die Steuerfreibeträge nicht verändert. Das bedeutet, dass die Bezieher höherer Einkommen nicht doppelt begünstigt werden, das wäre nicht gerecht. Deshalb schmilzt der Kinderbonus bei höheren Einkommen stufenweise ab. So haben wir von den 18 Millionen Kindern und Jugendlichen, die das bekommen, etwa drei Millionen, bei denen der Bonus nicht greift. Diese drei Millionen Kinder leben in Familien, die ein überdurchschnittliches Einkommen haben und die keine zusätzliche Stärkung ihrer Kaufkraft brauchen.
Für was sollten die Familien denn diesen Bonus ausgeben, wenn es nach Ihnen geht, Frau Giffey?
Ich wünsche mir, dass die Eltern etwas Schönes mit ihren Kindern unternehmen, vielleicht einen Ausflug oder mal essen gehen. So bleibt das Geld im Land. Der erste Teil des Geldes wird ja im September ausgezahlt, da können auch Schulsachen oder Kleidung gekauft werden. Dann gibt es im Oktober zu den Herbstferien die zweiten 150 Euro, da finden sich sicher gute Ideen.
Trotz all der Maßnahmen, die Sie schildern, ist für viele Familien der Eindruck entstanden, dass es Rettungsschirme für alle möglichen Branchen und Gruppen gab, aber nicht für sie. Wer rettet eigentlich die Familien?
Wir sollten die Wirtschaft nicht gegen die Familien stellen. Denn: Wer ist denn die Wirtschaft? Da arbeiten Millionen von Vätern und Müttern. Wenn wir Kurzarbeitergeld für über zehn Millionen Menschen ermöglichen, dann müssen unzählige Kinder nicht fürchten, dass ihre Eltern ihre Arbeit verlieren. Das gilt auch für die 25 Milliarden Euro Überbrückungshilfen für die Wirtschaft, gerade für die Branchen, in denen viele Frauen arbeiten. Darüber hinaus haben wir die Lohnausfallzahlungen für Eltern, die, weil sie ihre Kinder betreuen müssen, nicht arbeiten gehen können, verlängert. Sie erhalten 67 Prozent vom Netto für zehn Wochen pro Elternteil. Und wir haben das Elterngeld coronafest gemacht, damit werdende Eltern, die jetzt weniger Einkommen haben, nicht später weniger Elterngeld bekommen. All diese Maßnahmen suchen auch international ihresgleichen. Deutschland wird es nur weiter gut gehen, wenn wir möglichst viele Arbeitsplätze retten. Die Wirtschaft, das sind doch wir alle.
Sie haben einen zehnjährigen Sohn. Wie sind Sie und Ihre Familie durch die erste Phase der Corona-Krise gekommen?
Das war auch bei uns nicht einfach, Homeschooling, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Wir haben das aber ganz gut geschafft. Bei allen Schwierigkeiten und Belastungen darf man aber eins nicht aus dem Blick verlieren: Wir in Deutschland haben die Krise auch im internationalen Vergleich gut gemeistert. Zu keinem Zeitpunkt hatten wir eine Überlastung des Gesundheitssystems. Auch das Versorgungssystem - Strom, Wasser, Lebensmittel, Müllabfuhr - das hat alles funktioniert. Gut, es gab anfangs nicht ausreichend Klopapier, aber das war sehr schnell wieder da. Alle Engpässe durch Hamsterkäufe sind binnen kürzester Zeit behoben worden.
Neue Studien legen nahe, dass von Kindern wohl eine geringere Corona-Infektionsgefahr ausgeht als befürchtet. Hinterher ist man zwar immer schlauer, aber war die schnelle Schließung von Schulen und Kindergärten vielleicht doch übertrieben?
Absolut nicht, ich bin davon überzeugt, dass das notwendig war. Am Anfang hatten wir einen deutlichen Anstieg der Infektionen in Schulen und Kitas. Das sind nun mal Großveranstaltungen, jeden einzelnen Tag begegnen sich da Hunderte von Menschen, Kinder, Eltern, Lehrerinnen, Erzieher. Mit dem Lockdown sind die Infektionen zurückgegangen, darum gab es keine Alternative zu dieser Maßnahme. Sie hat dazu geführt, dass wir nicht so viele schwere Krankheitsverläufe und auch nicht so viele Tote zu beklagen hatten.
Sexueller Missbrauch von Kindern und häusliche Gewalt werden oft durch Hinweise von Erziehern oder Lehrern entdeckt. Während der Schließung von Kitas und Schulen ging die Zahl der Meldungen zurück. Kinderschützer fürchten, dass die tatsächliche Zahl der Fälle aber während des Lockdowns gestiegen ist. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?
Leider gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, aber wir müssen davon ausgehen, dass das Hellfeld kleiner und das Dunkelfeld größer geworden ist. Logischerweise fallen durch die Schließung der Einrichtungen Entdeckungsmöglichkeiten weg. In Familien, wo es ohnehin schon schwierig war, verschärfen sich jetzt die Probleme. Das sagen uns alle Experten. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass Schulen und Kitas jetzt wieder öffnen, damit Kinder auch Ansprechpartner außerhalb der Familie haben.
Was muss getan werden, um Kinder besser zu schützen?
Gewalt und Missbrauch passieren im Verborgenen, deshalb braucht es in der Gesellschaft eine höhere Sensibilität und auch den Mut, hinzusehen und besonnen zu handeln, wenn in der Nachbarschaft, in der Familie, im Sportverein etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Hinter der schönsten Fassade kann manchmal Schreckliches passieren. Wir brauchen ein Kinder- und Jugendhilferecht, das den Kinderschutz noch stärker in den Mittelpunkt stellt. Wir brauchen einen Jugendmedienschutz, der im Zeitalter der Digitalisierung adäquat reagieren kann. Wir brauchen Standards für eine kindgerechte Justiz, denn schlechte Kinderschutzverfahren schützen die Täter. Und wir brauchen Fortbildungen für Familienrichter und pädagogische Fachkräfte, damit sie Missbrauch erkennen und richtig damit umgehen können. An all diesen Themen arbeiten wir.
Braucht es auch schärfere Gesetze gegen sexuellen Missbrauch? Ihre Parteifreundin, Justizministerin Christine Lambrecht, hat erst nach einigem Zögern entsprechenden Unionsforderungen zugestimmt.
Härtere Strafen sind zu begrüßen, gerade auch, was Kinderpornografie betrifft. Wichtig ist aber vor allem, dass der jetzt schon bestehende Strafrahmen am oberen Ende ausgeschöpft wird. Das geschieht ja nur in den wenigsten Fällen. Für die schlimmsten Taten sind 15 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung möglich.
Laut der Soziologin Jutta Allmendinger hat die Corona-Krise die Gleichstellung von Frauen um 30 Jahre zurückgeworfen, viele Familien seien in traditionelle Rollenmuster zurückgefallen. Der Mann verdient das Geld, die Frau hütet Heim und Kinder. Teilen Sie diese Ansicht?
Das ist ein wichtiger Punkt, aber ich halte das in dieser Dimension schon für etwas übertrieben. Insgesamt haben Väter in den vergangenen Jahren mehr Erziehungsarbeit übernommen, häufig auch jetzt in der Krisenzeit. Es hat sich gesellschaftlich viel bewegt. Heute nehmen gut 40 Prozent der Väter Elternzeit - ja, meist nicht so viel wie die Mütter, aber oft mehr als die zwei Mindestmonate. Aber es stimmt, dort wo Ungleichheiten schon bestanden, haben sie sich teils weiter verschärft. Meist sind es ja doch die Frauen, die Hausarbeit und Kindererziehung schultern und meist stecken die Frauen zurück, wenn es darum geht, wer zeitweise zu Hause bleibt, auch, weil sie oft weniger verdienen.
In vielen Chefetagen sind Frauen noch immer nur schwach vertreten. Woran liegt das?
Jedenfalls nicht an der SPD. Die Justizministerin und ich, wir haben ja einen Gesetzentwurf vorgelegt und wollen, dass in den Chefetagen großer Unternehmen mit großen Vorständen mindestens eine Frau vertreten ist. Bislang sind über 90 Prozent der Vorstände Männer. Und 70 Prozent der betroffenen Unternehmen wollen daran auch nichts ändern, sie melden die Zielgröße Null. Das ist ein Armutszeugnis.
Giffey zur K-Frage: "Am Ende wird es gut"
Deutschland wird ja von einer Frau geführt, aber Kanzlerin Angela Merkel hört auf. Auf Seiten der Union sind derzeit nur Männer für ihre Nachfolge im Gespräch. Müsste da nicht wenigstens die SPD eine Frau ins Rennen schicken?
Ich werde mich jetzt nicht zur Kanzlerkandidaturfrage äußern, das wird die SPD zu gegebener Zeit tun. Die Union ist in der Krise in den Umfragen weit nach oben geklettert, die Zustimmungswerte für die SPD bleiben dagegen im Keller, obwohl sie mitregiert.
Welche Eigenschaften müsste ein Kanzlerkandidat mitbringen, um das zu ändern? Die Menschen müssen darauf vertrauen können, dass diejenigen, die das Land führen, auch Probleme lösen können. Und dieses Zutrauen kann man nur durch tätiges Handeln gewinnen. Was die SPD-Minister in der Bundesregierung tun, wie sie ihre Aufgaben gerade auch in der Krise meistern, wird von der Bevölkerung anerkannt.
Sie halten Olaf Scholz und Hubertus Heil für die geeigneteren Kanzlerkandidaten, als etwa Fraktionschef Rolf Mützenich oder die Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans?
Wir werden diese Frage in den kommenden Wochen und Monaten klären und ich bin mir ganz sicher, dass es am Ende gut wird.
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