Präsidentschaftswahlen
Erdogan-Abwahl? Türkei steht Richtungsentscheidung bevor
12. Mai 2023, 10:43 Uhr
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat vor Kurzem sein Profilbild auf Twitter geändert - es zeigt ihn jetzt mit blauer Fliegerjacke und Sonnenbrille. Entschlossen sieht es aus. Stärke statt Schwäche soll das Bild vor der richtungsweisenden Wahl am Sonntag ausstrahlen - ein Mann, der sein Land voranbringt.
Doch ob Erdogan die Türkei nach 20 Jahren an der Macht in die Zukunft führen kann, daran gibt es zunehmend Zweifel. Das Land leidet unter einer Währungskrise, die Justiz gilt als politisiert, die Institutionen als ausgehöhlt. Nach dem Erdbeben im Februar mit Zehntausenden Toten wurde Erdogan Versagen im Krisenmanagement vorgeworfen.
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, nicht Erdogan, geht am Sonntag als Favorit ins Rennen. Laut Umfrageinstitut Metropoll lag Erdogan bei 44 Prozent und sein Herausforderer Kilicdaroglu bei 46 Prozent.
Erdogan ist einer der einflussreichsten Politiker seit Mustafa Kemal Atatürk, der die Republik vor 100 Jahren gründete. 2003 wurde Erdogan Ministerpräsident, 2014 Staatspräsident. Durch eine Verfassungsänderung hat Erdogan seit fünf Jahren weitreichende Vollmachten. Sollte der 69-Jährige erneut an die Macht kommen, werde das Land weiter in die Autokratie abgleiten, befürchten manche.
Auch international wird die Abstimmung aufmerksam beobachtet. Die Türkei ist Nato-Mitglied, EU-Beitrittskandidat und beherbergt Millionen geflüchtete Menschen aus Syrien. Im Ukraine-Krieg unterhält sie sowohl zu Kiew als auch zu Moskau gute Beziehungen.
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu tritt für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Er will das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie führen. Die prokurdische HDP hat ihre Wähler zudem aufgerufen, Kilicdaroglu zu unterstützen. Rund 20 Prozent der türkischen Bevölkerung sind kurdisch - wie bei vergangenen Wahlen wird erwartet, dass sie den entscheidenden Unterschied ausmachen können.
Der Wahlkampf, der ruhig begonnen hatte, wurde zuletzt immer hässlicher. Ein beliebter Oppositionspolitiker wurde mit Steinen beworfen, Erdogan warf Kilicdaroglu vor, Terroristen zu unterstützen und zeigte sogar ein gefälschtes Video, um die Behauptung zu untermauern. Einer der ehemals drei Erdogan-Herausforderer, Muharrem Ince, gab am Donnerstag auf. Zuvor waren in den vergangenen Tagen Korruptionsvorwürfe gegen Ince laut geworden und kompromittierende Bilder aufgetaucht. Ob diese authentisch sind, ist völlig unklar.
Der Innenminister spricht sogar von einem möglichen Putsch am Wahltag. Erdogan selbst twitterte kurz vor der Wahl: "Wenn es nötig ist, werden wir, wie in der Nacht des 15. Juli, auf Kosten unseres Lebens unsere Unabhängigkeit und Zukunft verteidigen". Er bezog sich damit auf den Putschversuch von 2016, ließ aber offen, welches künftige Szenario er damit meinte. Erdogans ultranationalistischer Verbündeter Devlet Bahceli drohte dem Oppositionsbündnis vor Kurzem unverhohlen mit "entweder lebenslangen Haftstrafen oder Kugeln in ihre Körper". Sollte die Opposition nur knapp gewinnen, wächst die Sorge, dass Erdogan das Ergebnis nicht akzeptieren könnte.
Welch große Bedeutung der Wahl beigemessen wird, sieht man auch am großen Interesse bei Türken im Ausland. Die Abstimmung für das Parlament und den Präsidenten findet gleichzeitig statt. Montagmorgen wird wohl feststehen, wer die meisten Abgeordneten im Parlament gewinnen konnte - das Bündnis von Erdogans islamisch-konservativer AKP oder die Opposition. Die Präsidentenwahl aber könnte auf eine Stichwahl am 28. Mai hinauslaufen.
In dem Fall werden sich alle Augen auf das Parlament richten: Wer dort die Mehrheit hat, dem werden bessere Chancen in der zweiten Runde zugerechnet. Denn geht das Präsidialamt an die Opposition und das Parlament an die Regierung oder umgekehrt, könnten sich beide Seiten gegenseitig blockieren. Das wissen auch die Wähler. Wie bei der Präsidentenwahl, könnte im Parlament die prokurdische HDP das Zünglein an der Waage sein.
Trotz Kritik hat Erdogan noch Chancen zu gewinnen. Er hatte das Land Anfang der 2000er Jahre in einer Wirtschaftskrise übernommen - und führte es in den Aufschwung. Er sorgte dafür, dass der religiöse Teil der Gesellschaft etwas vom Wohlstand abbekam und nicht wie zuvor nur die säkulare Elite. Wähler rechnen ihm das noch heute hoch an. Manche habe genug von Erdogan, sehen aber keine Alternative in Kilicdaroglu, der schon seit 13 Jahren an der Spitze der Opposition steht.
Sollte Erdogan wieder an die Macht kommen, stellt sich die Frage, wie er die wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen will. Das ginge nach Ansicht von Experten nur mit einer Abkehr von seiner unorthodoxen Geldpolitik. Außenpolitisch wird Erdogan voraussichtlich seine Annäherungspolitik in der Region fortsetzen. Er wird aber auch auf Europa zugehen müssen, denn er benötigt dringend Investitionen. Die Opposition stünde bei einer Niederlage vor einem Scherbenhaufen und womöglich weiteren Repressionen. Wahrscheinlich ist, dass sich der Braindrain bei einem Sieg Erdogans fortsetzt. Schon jetzt sind viele junge gebildete Türken ins Ausland abgewandert.
Sollte die Opposition gewinnen, würde die Türkei nicht mit einem Schlag demokratischer. Kilicdaroglu wird vor allem vor der Herausforderung stehen, sein Bündnis auch langfristig zusammenzuhalten. Er will die Institutionen wieder unabhängig machen und dabei voraussichtlich bei der Zentralbank anfangen. Kilicdaroglu verspricht zudem, Investitionen ins zu Land holen und die Abwanderung junger Leute aufzuhalten. Exil-Intellektuelle wie der Journalist Can Dündar hoffen auf eine Rückkehr in ihr Heimatland.
Außenpolitisch wird keine scharfe Wendung erwartet, denn viele Eckpfeiler der türkischen Außenpolitik bleiben gleich. Mit Russland will das Sechser-Bündnis etwa ebensogute Beziehungen wie mit den USA. Auch im Ukraine-Krieg sieht es sich als Vermittler. Nachbar Griechenland guckt mit Sorge auf die extrem nationalistische Iyi-Partei in Kilicdaroglus Bündnis. Die größte Herausforderung für die EU dürfte die Migrationsfrage werden. Kilicdaroglu will den sogenannten Flüchtlingspakt neu verhandeln.
Egal, wer am Ende gewinnt, es steht eine Mammutaufgabe bevor. Die wirtschaftlichen Probleme sind gewaltig, das Land ist polarisiert und das Erdbeben hat tiefe Wunden gerissen, die es zu heilen gilt.
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