Politik
Diskussion um Panzerlieferungen: "Der Debatte sind Maß und Mitte abhandengekommen"
11. Januar 2023, 17:22 Uhr aktualisiert am 11. Januar 2023, 17:22 Uhr
AZ-Interview mit Markus Kaim: Der promovierte Politik- wissenschaftler ist Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.
AZ: Herr Kaim, nach langem Abwägen ist die Bundesregierung nun bereit, der Ukraine 40 Marder-Schützenpanzer zu liefern. Aus dem Kanzleramt heißt es, man habe sich über Wochen mit Washington und Paris abgestimmt. Andere sagen, nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron mit der Zusage von Spähpanzern vorgeprescht war, sei Kanzler Olaf Scholz unter Zugzwang geraten. Was halten Sie für wahrscheinlicher?
MARKUS KAIM: Wenn man genau hingehört hat, gab es eine Absprache zwischen den USA, Frankreich und Deutschland - und Macron hat in seiner etwas Ich-bezogenen Art, Außenpolitik zu gestalten, seine Leistung lediglich besonders ins Schaufenster stellen wollen.
Was war letztlich der Auslöser für diese Entscheidung?
Der Krieg hat sich zu einem Abnutzungskrieg entwickelt, dem militärischen Handeln ist die Dynamik abhandengekommen, die Frontlinie bewegt sich mal zehn Kilometer nach Osten, dann wieder zehn Kilometer nach Westen. Der Luftkrieg, den die Russen seit 10. Oktober mit Drohnen und Raketen auf die zivile Infrastruktur führen, ist ebenfalls schon "eingepreist": Die Russen zerschießen das Energienetz der Ukrainer und am nächsten Tag flicken die Ukrainer es wieder zusammen. Alle Beteiligten haben sich mit der gegenwärtigen Form des Krieges arrangiert - nicht nur die Gegner selbst, sondern auch die dritten Parteien wie Deutschland, Frankreich oder die USA. Das Kalkül der Bundesregierung und ihrer Partner war es offensichtlich, in diese Statik einzugreifen und der Ukraine wieder einen Vorteil zu verschaffen.
"Die Sorge vor einem Nuklear-Einsatz war 2022 begründeter"
Der Kreml wiegelt ab, die zugesagten Panzer würden am Kriegsverlauf gar nichts ändern. Stimmt das?
Mit 40 Mardern kann man bis zu 400 ukrainische Soldaten geschützt an die Front transportieren. Ich will das nicht kleinreden, aber es ist nicht kriegsentscheidend. Es ist ein quantitativer Sprung, kein qualitativer. Von der ganzen Kritik, dass jetzt endgültig eine rote Linie überschritten sei, Deutschland nun endgültig Kriegspartei sei und jetzt wirklich der Einsatz von Nuklearwaffen drohe, halte ich überhaupt nichts. All das kann ich nicht erkennen.
Was ist in Ihren Augen ein qualitativer Sprung?
Etwa, dass sich die Bundesregierung im letzten Jahr entschieden hat, überhaupt Waffen an die Ukraine zu liefern.
Die Rufe, nun auch Kampfpanzer zu entsenden, werden immer lauter. Welche Folgen hätte es, würden sie erhört?
Ich bin explizit für die Lieferung von Waffen an die Ukraine. Aber der deutschen Debatte sind gerade Maß und Mitte verloren gegangen. Beim Mindestlohn, der Gaspreisbremse oder der CO2-Bepreisung haben wir gefragt: Was sind die politischen Ziele? Ist die Maßnahme in diesem Sinne effektiv? Was sind überhaupt die Kriterien für eine sinnvolle Politik? Aber auf diesem Politikfeld ist eine Dynamik in Gang gekommen, bei der es nunmehr einfach heißt: jetzt Marder und dann Leopard. Wir müssen doch mal angeben, woraus wir die Messlatte für unser Handeln ableiten.
Was könnten entsprechende Kriterien sein?
Das Kriegsgeschehen selbst, würde die Ukraine etwa eine weitläufige Panzeroperation planen und bräuchte dafür den Leopard. Oder dass die osteuropäischen Verbündeten und die Amerikaner von uns erwarten, dass wir liefern. Auch das wäre ein valides Argument. Oder dass Deutschland tatsächlich eine Führungsrolle einnehmen soll, was ja seit einiger Zeit immer wieder gefordert wird. Insofern ist die Leopard-Debatte von der Bundesregierung selbst verschuldet, weil sie nie Auskunft über ihre Kriegsziele gegeben hat.
Die Angst, Russland könnte zumindest taktische Nuklearwaffen einsetzen, ist groß. Warum halten Sie es dennoch für unwahrscheinlich?
Wissenschaftlich ist diese Frage nicht zu beantworten, weil wir keine vergleichbaren Fälle haben, in denen ein Aggressor, um unter anderem dritte Parteien abzuschrecken, taktische Nuklearwaffen einsetzt. Aber ich finde, die Sorge vor einem solchen Einsatz war im vergangenen Jahr begründeter als im jetzigen. Damals musste die Bundesregierung einen Pfad beschreiten, den keine Bundesregierung vor ihr je beschritten hatte. Sie konnte nicht wissen, was die Konsequenzen ihres Handelns sind. Nach einem Jahr Kriegsempirie wissen wir: Vieles von dem, was von der russischen Seite als rote Linie markiert worden ist, und die eskalatorische Rhetorik, die uns letzten Sommer noch Schweißperlen auf die Stirn getrieben hat, waren Drohgebärden. Und weil Präsident Putin die Grundregeln der nuklearen Abschreckung offensichtlich versteht und nach wie vor beherzigt.
Allerdings lässt einen vieles, was Wladimir Putin tut, kopfschüttelnd zurück. Was wollte er mit der Weihnachts-Waffenruhe erreichen, in der doch die ganze Zeit gefeuert wurde?
Die Zielrichtung war wohl der Westen. Ich habe das als Versuch gelesen, der internationalen Gemeinschaft den eigenen Friedenswillen unter Beweis zu stellen. Als Propaganda, um zu zeigen, wer die gute Partei ist, die zu Verhandlungen und Humanität bereit ist. Insofern: Indem wir darüber sprechen, gehen wir Putin schon wieder auf den Leim.
Es scheint, als sei der Kremlchef im eigenen Land zunehmend in der Defensive. Hardliner wie Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin oder Tschetschenen-Präsident Ramsan Kadyrow werfen ihm vor, den Krieg nicht brutal genug zu führen, und haben die Ablösung hoher Militärs erwirkt. Wie gefährlich sind diese Extremisten für ihn?
Um diese Frage seriös zu beantworten, müsste man in die internen Machtzirkel um Putin hineinschauen können. Aber das kann im Moment niemand. Ich würde jedoch sagen: Umso mehr die russische Gesellschaft vom Krieg erfasst wird, desto stärker werden sich die Menschen von Präsident Putin abwenden. Und da sind wir erst ganz am Anfang: Im Frühling stehen weitere russische Mobilmachungen ins Haus; das Öl-Embargo der EU gilt erst seit Beginn dieses Jahres; zudem wird die Wirkung vieler Sanktionen erst in diesem Jahr wirklich spürbar werden. Dann könnte es ungemütlich für Präsident Putin werden.
"Wo können wir
Europäer die
USA ersetzen?"
EU und Nato haben beschlossen, künftig enger zu kooperieren. Was wären Ihrer Meinung nach die wichtigsten Punkte?
Damit kulminiert eine Entwicklung der letzten Jahre, die unter dem Schlagwort der Strategischen Autonomie Europas stand. Die Idee dahinter war stets, dass die EU eine größere sicherheitspolitische Rolle spielen könnte - weniger im Bereich der Kollektiven Verteidigung als beim Krisenmanagement in der Peripherie Europas. Ein klassisches Szenario dafür wäre ein Bürgerkrieg in Nordafrika mit gewaltigen Fluchtbewegungen, bei dem Kriegsparteien getrennt oder Zivilisten geschützt werden müssen. Aber eigentlich wird diese wachsende Bedeutung der EU zum falschen Zeitpunkt unterstrichen.
Warum?
Weil sich die internationale Gemeinschaft aktuell erkennbar von Krisenmanagement-Operationen verabschiedet: Afghanistan ist abgewickelt, Mali folgt bis 2024. Was bleibt, sind kleinere und Kleinstoperationen. Parallel dazu ist in der Sicherheitspolitik durch den russischen Angriff auf die Ukraine wieder das Primat der Kollektiven Verteidigung erkennbar, dem alles untergeordnet wird. Das Pendel ist also vollständig zurückgeschwungen.
Was folgt daraus?
Noch können sich die Europäer darüber freuen, dass die USA ihre sicherheitspolitische Rolle auf dem Kontinent kraftvoll spielen: 20 000 weitere Soldaten seit Februar, über 80 Milliarden Dollar an Hilfen für die Ukraine - den Status quo dort hätten wir ohne diese Maßnahmen nicht, vor allem nicht ohne die militärischen. Das darf man aber nicht für einen Dauerzustand halten.
Zumal es fraglich ist, ob das neue US-Repräsentantenhaus die entsprechenden Ausgaben noch absegnet.
Stimmt. Die Republikaner wollen kein Geld mehr geben, unter den Demokraten erodiert die Zustimmung ebenfalls. Aber vor allem haben die USA - auch ohne die Rückkehr von Donald Trump - andere Prioritäten. Außenminister Anthony Blinken hat den Europäern schon in einer Rede im Mai ins Stammbuch geschrieben, dass die eigentliche Herausforderung für sein Land der indopazifische Raum ist. Wenn der Krieg in der Ukraine irgendwann vorbei ist, werden die USA ihr Engagement reduzieren. Da kommt meiner Meinung nach der europäische Pfeiler der Nato ins Spiel. Auch wenn der Ausdruck alt ist - der geopolitische Rahmen hat sich verändert. Die überwölbenden Fragen der nächsten Jahre müssten also sein: Was können die Europäer tun, um die USA sicherheitspolitisch in Europa zu halten? Und wo können sie die USA ersetzen?
Wozu raten Sie als Experte?
Zunächst dazu, mehr in die Verteidigung zu investieren.
Die berühmten zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt oder mehr?
Zwei Prozent werden voraussichtlich, gemessen an den absehbaren Aufgaben und Verpflichtungen, zu wenig sein. In der Hochphase des Kalten Krieges waren es vier Prozent.
Was würden Sie den Europäern noch empfehlen?
Beiträge innerhalb der Nato zu definieren, die nur von den Europäern geleistet werden, um die USA zu entlasten. Und dann müsste man das Ganze auch noch politisch durchdeklinieren: Können wir uns vorstellen, dass sich die europäischen Mitglieder der Nato separat treffen und überlegen, was ihre Interessen sind - gegebenenfalls auch gegenüber den USA? Das ist allerdings keine reine EU-Aufgabe. Briten, Türken und Norweger müssten mit an Bord sein.
Sie haben vor einigen Monaten in einem Gastbeitrag für den "Spiegel" geschrieben, es sei zwingend notwendig, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Bleiben Sie dabei?
Absolut! Denn egal, welchen Frieden wir uns zwischen der Ukraine und Russland vorstellen - einen Waffenstillstand, einen Friedensvertrag-, er wird den Konflikt nicht beenden. Dieses Finale wird es mit einem Präsidenten Putin nicht geben. Er wird ein solches Abkommen für taktische Gewinne nutzen und der Vertrag letztlich das Papier nicht wert sein, auf dem er steht. Das heißt: Die territoriale Integrität und die politische Souveränität der Ukraine müssen mit anderen Mitteln gesichert werden - und die sind überschaubar.
Es ist immer wieder von Sicherheitsgarantien für die Ukraine die Rede.
Das wäre die Alternative zur Nato. Außenministerin Annalena Baerbock hat davon gesprochen, Olaf Scholz ebenfalls. Aber niemand ist bereit dazu, das konkret auszubuchstabieren. Hieße das: deutsche Truppen auf ukrainischem Boden? Oder: deutsches Kriegsmaterial auf ukrainischem Boden, das schnellstmöglich in Gang gesetzt werden kann? Und welche Staaten neben Deutschland geben diese Sicherheitsgarantien ab? Über welche Dauer? Da müsste man in die Details gehen - doch dazu kann ich keine Bereitschaft erkennen. Deshalb wirkt diese grundsätzliche Zusicherung unglaubwürdig.
"Rücksichtnahme auf Putin hat sich nicht ausgezahlt"
Also bleibt als Option nur die Nato-Mitgliedschaft?
Es gibt noch eine weitere: Man überlässt der Ukraine selbst die Sicherung ihrer territorialen Integrität und ihrer politischen Souveränität. Doch dieses Szenario würde äußerst unbequem. Denn dann bleibt für die Ukraine - nach einem wie auch immer gearteten Waffenstillstand - nur die "Israel-Option": Weil sie sich auf niemanden verlassen kann, müsste sie gewaltig hochrüsten. Dann stünde letztlich auch die Frage von Nuklearwaffen auf der Tagesordnung.
Eines der Hauptargumente gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist stets, dass Wladimir Putin sich bedrängt fühlen würde. 2008 wurde deswegen davon abgesehen. Was wäre heute anders?
Dass es sich in keiner Weise ausgezahlt hat, dass wir auf Präsident Putin Rücksicht genommen haben. Diese Zeit ist absolut vorbei.