Psychologie

Spätfolgen der Pandemie: Sarah kämpft mit Magersucht und Depressionen

Morgens nicht aus dem Bett kommen. Fehlender Appetit. Keine Kraft für Hobbys. Seit der Pandemie leidet Sarah aus dem Kreis Straubing-Bogen unter einer Depression und Magersucht. Ihre Geschichte.


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TRIGGERWARNUNG: Dieser Text behandelt die Folgen von Magersucht und einer Depression.

Es ist das Jahr 2020. Sarah ist zwölf Jahre alt, die Corona-Pandemie verändert gerade das Leben aller Menschen. Für Schüler bedeutet das: Die Schulen schließen, es gibt Homeschooling. Sarah, die ihren echten Namen hier nicht lesen möchte, merkt, dass etwas nicht stimmt. Da ist keine Freude mehr in ihr, sie hat auf nichts Lust. „Vielleicht ganz normal in der Pubertät“, denkt sie sich, und zieht sich immer mehr in ihr Zimmer zurück.

Während der Lockdowns sind Jugendliche viel auf Social Media unterwegs – damals fast die einzige Möglichkeit, um Kontakt zu Freunden zu haben. Doch Instagram und TikTok sind voll mit scheinbar perfekten Models. Das schürt Selbstzweifel, vor allem bei Teenagern, die sich häufig noch selbst finden müssen. Das passiert auch bei Sarah.

Wohlgefühlt hat sie sich mit ihrem Körper noch nie. Sie findet ihn zu dick, vor allem die Oberschenkel. Die Pandemie verstärkt diese Selbstzweifel. Sie fängt an, weniger zu essen. Damals bemerkt das noch keiner. Zudem hat sie in den Lockdowns viel Zeit. Zeit, um Work-outs und Abnehmrezepte auszuprobieren, die sie online sieht. „Auf TikTok gab es einen Fitnesswahn“, erinnert sie sich.

Sarahs „Faulheit“ heißt Depression

In den folgenden Monaten schleicht es sich immer mal wieder leise an, das Monster auf Sarahs Schulter – die Depression. Diese große Schwere und Leere. Doch noch verzieht es sich immer wieder. Bis Ende 2022.

Sarah besucht da die neunte Klasse einer Realschule. Die Abschlussprüfungen rücken näher, der Druck steigt. Die Schülerin kommt damit nicht zurecht. Das Aufstehen am Morgen wird zum Kampf. Sarah beschreibt ihn so: „Du weißt, du musst aufstehen. Aber irgendetwas in dir sagt, du musst liegenbleiben.“ Dieses „irgendetwas“ ist keine Faulheit, es ist Sarahs Depression. Sie ärgert es, wenn jemand sie deshalb als faul bezeichnet: „Ich bin krank“, stellt sie klar. Der Leistungsdruck zwingt sie letztlich aber doch aus dem Bett.

Pandemie hinterlässt tiefe Spuren

Sarah denkt, dass die Pandemie ihre psychischen Probleme mit ausgelöst hat: „Man war viel allein mit seiner Gedankenwelt. Die sozialen Kontakte sind weggebrochen.“ Natürlich sind zuhause Familie und Geschwister – doch die Freunde fehlen.

Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus bestätigt Sarahs Gefühl. „Die Pandemie wirkt bei Kindern und Jugendlichen lange nach. Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen haben tiefe Spuren hinterlassen“, sagte sie 2023 in einer Rede. Laut ihr leiden deutlich mehr junge Menschen als vor Corona an Depressionen, Angst- und Essstörungen. Auch die Mediennutzung sei bei vielen aus dem Ruder gelaufen.

Ein paar Monate später, es ist 2023. Sarah ist jetzt 15 Jahre alt, die Pandemie vorbei. Für sie keine Erleichterung. Denn das Monster auf ihrer Schulter ist mittlerweile so groß, dass es nicht mehr so einfach verschwindet. Sarah erreicht einen Tiefpunkt. In ihr: komplette Leere. Für sie ist diese Abwesenheit aller Gefühle nur schwer zu ertragen. In der Schule ist Sarah physisch anwesend, mental jedoch weit weg. Für gesunde Menschen schnell erledigte Dinge wie Zimmeraufräumen werden für sie zur Mammutaufgabe. Während ihre Freundinnen auf Partys gehen, schläft sie fast durchgehend. Sie weint jeden Tag. Zu diesem Zeitpunkt wird bei ihr auch Magersucht diagnostiziert.

Sarah will damals nicht mehr als rund 400 Kalorien am Tag essen. Das entspricht in etwa vier Bananen. Bei Sarah sehen die Mahlzeiten so aus: Das Frühstück lässt sie weg. Mittags gibt es eine Päckchen-Nudelsuppe. „Aber Nudeln waren da nicht wirklich drin. Das war eher eine Brühe, die ich gelöffelt habe“, erinnert sie sich. Abends isst sie einen Proteinpudding und ihren selbst gemachten „Kuchen“. Der besteht aus Magerquark, Erythrit – einem beinahe kalorienfreien Zuckerersatz –, und Eiweiß. Von ihrer besorgten Mutter lässt sie sich nicht reinreden.

Sarahs Hungergefühl verschwindet mit der Zeit einfach. Doch der Körper kämpft. Mit Kreislaufproblemen, Eisenmangel – und einem viel zu niedrigen Puls. Nachts sinkt er teils auf bis zu 26 Schläge pro Minute. Eine Folge ihrer Unterernährung. Normal ist ein Ruhepuls zwischen 60 und 80.

Das Monster kehrt schnell zurück

Mit ihren Eltern beschließt Sarah, in eine Klinik zu gehen. Wie viel sie damals gewogen hat, weiß sie heute nicht mehr. Sie hat es verdrängt. Die Diagnose in der Klinik: Anorexie und Depression. Nachts wird Sarahs Puls überwacht. Zwei Monate bleibt sie dort. In dieser Zeit bekommen Sarahs Tage wieder mehr Struktur, ihr geht es besser.

Doch lange ist sie nicht zuhause, da kommt das Monster zurück. Denn Sarah tut sich schwer, ihre Gewichtszunahme zu akzeptieren. Das verschlimmert wiederum die Depression. Sie bleibt tageweise von der Schule zuhause, weil sie „nichts mehr auf die Reihe“ kriegt. Vonseiten der Lehrer gibt es keinen Ärger. Sie sind informiert. Sarah fühlt sich ausgelaugt, verbringt die Tage im Bett. Hat keinen Appetit, erfindet Ausreden, um sich nicht mit Freundinnen treffen zu müssen. Ihren Realschulabschluss schafft sie trotzdem mit einem Einserschnitt. Wie ihr das gelungen ist, weiß Sarah selbst nicht.

Deutlich mehr Essstörungen

Die Teenagerin ist mit ihren Problemen nicht allein. So wie Sarah geht es vielen Jugendlichen seit Corona. Schon ein Jahr nach Beginn der Pandemie stieg die Nachfrage nach Behandlungen bei Kinder- und Jugendpsychotherapeuten um 60 Prozent, berichtet die Tagesschau. Vor allem Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren sind betroffen. Erschreckend sind auch die Zahlen zu Essstörungen: Die stiegen während der Pandemie um 51 Prozent. Auch Angststörungen und Depressionen nahmen deutlich zu.

2025, das neue Jahr hat begonnen. Das Monster konnte Sarah noch nicht fortjagen. „Es fühlt sich an, als würde ich mit meinen Schultern etwas tragen, das richtig schwer ist“, erzählt sie. Mittlerweile besucht Sarah eine Fachoberschule. Wegen eines erneuten Klinikaufenthalts kam sie einige Wochen später zur neuen Klasse. Auch wenn sie sich immer noch nicht zum Lernen motivieren kann, schreibt sie gute Noten. Ein Medikament und eine wöchentliche Therapiestunde unterstützen sie.

Und Sarah lernt dazu. Zum Beispiel achtet sie heute darauf, auf Social Media gesunden Vorbildern zu folgen. Frauen, die sich authentisch zeigen und über mentale Gesundheit sprechen. Auch ihre Beziehung zum Essen ist besser. In der Klinik hat sie gelernt, ihren Körper mehr zu akzeptieren – und dass man sich auch mal was gönnen darf, wie ein Stück Kuchen.