Greifswald/Berlin
Immer wieder Wahlpannen in Deutschland - In Greifswald nun Prozess
17. Januar 2016, 16:35 Uhr aktualisiert am 17. Januar 2016, 16:35 Uhr
Von verbrannten Stimmzetteln bis zur verrutschten Fußmatte: Pannen kommen bei Kommunalwahlen immer wieder mal vor. Nur in wenigen Fällen landen sie aber vor Gericht - wie jetzt der Fußmatten-Streit von Greifswald.
Kleine Ursache, große Wirkung: Eine simple Fußmatte bringt seit Monaten das politische Leben im vorpommerschen Greifswald zum Beben. Die Oberbürgermeisterwahl vom Mai 2015 muss möglicherweise wiederholt werden, weil wegen eines verrutschten Abtreters die Tür zu einem Wahllokal ins Schloss fiel und für bis zu 90 Minuten verschlossen blieb. Der nur hauchdünn unterlegene CDU-Kandidat Jörg Hochheim legte Klage vor dem Verwaltungsgericht ein. Er geht davon aus, dass die geschlossene Tür ein erheblicher Wahlfehler war, den Ausgang der Stichwahl beeinflusst hat und damit eine Wiederholung zwingend macht.
Bei der Wahl in der langjährigen CDU-Domäne - die zudem auch zum Bundestagswahlkreis von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gehört - verlor Hochheim mit nur 15 Stimmen Unterschied gegen den Grünen Stefan Fassbinder. Der Historiker führt seit November nun die Amtsgeschäfte im Greifswalder Rathaus. Doch ob das so bleibt, wird an diesem Dienstag vor dem Greifswalder Verwaltungsgericht verhandelt. "Ich habe die Erwartung, dass das Gericht meine Auffassung teilt", zeigt sich Hochheim überzeugt.
Pannen bei Kommunalwahlen werden in Deutschland immer wieder vermeldet. So verbrannten Mitarbeiter der Gemeinde Selters im Taunus bei der hessischen Kommunalwahl im März 2011 aus Versehen nicht nur leere Stimmzettel, sondern auch die ausgefüllten Briefwahlunterlagen von 655 Bürgern. Dabei wollten die Angestellten nur aufräumen. Bei der Kreistagswahl im sächsischen Zwickau im Mai 2014 wurden beim Summieren der Stimmen auf den Zähllisten ganze Blöcke vergessen. Offenbar hatte Übermüdung am späten Abend zur Unachtsamkeit geführt. Technische Probleme an Internetleitungen oder Computern, fehlerhafte Stimmzettelvordrucke - der Mensch ist nicht vor Irrtümern und die Technik nicht vor Pannen gefeit.
Der Gang vor Gerichte ist in Deutschland trotzdem die Ausnahme. Meist würden Streitigkeiten in den Rechtsämtern der Kommunen oder den Gemeindeparlamenten entschieden - und das sei auch gut so, sagt der Kommunalwahlrechtsexperte Dieter Kallerhoff. "Prozesse um Wahlen sind eine Operation am Herzen der Demokratie." Der Jurist - Mitautor des Handbuchs für Kommunalwahlrecht in Nordrhein-Westfalen - war bis 2014 Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts in Münster.
Ein spektakulärer Fall ereignete sich 2009 in Dortmund: Einen Tag nach der Kommunalwahl räumte der SPD-Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer ein 100 Millionen Euro großes Haushaltsloch ein. Die CDU schäumte, sprach von "beispiellosem Betrug", auch der grüne Koalitionspartner wandte sich von der SPD ab. 2011 entschied das Oberverwaltungsgericht, dass die Wahl wiederholt werden muss. Es blieb trotzdem alles beim Alten: Die SPD behauptete ihren Wahlsieg.
Auf der Ostseeinsel Hiddensee wurde 2009 die Bürgermeisterwahl per Gericht für ungültig erklärt. Der Amtsinhaber hatte den Bewohnern Gratisfahrten zum Wahllokal versprochen.
Gerichtsrelevant werden Wahlen nur, wenn es einen gravierenden Fehler gegeben hat, der den Ausgang der Wahlergebnisse beeinflusst haben kann. Dies regeln die Kommunalwahlgesetze in den Bundesländern. Häufigster Anfechtungsgrund sind Verletzungen der Neutralitätspflicht von Amtsträgern: Wenn beispielsweise ein Landrat einen Bürgermeisterkandidaten seiner Partei offen mit Versprechungen unterstützt oder - wie in Dortmund - Fehl- oder vorenthaltende Informationen durch Parteien oder Politiker den Ausgang der Wahl gelenkt haben könnten, wie Kallerhoff sagt. "Manipulationen der Wahl kann sich keine Partei und kein Politiker leisten."
Aus seiner 27-jährigen Praxis als Richter am Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen weiß der Jurist, dass die Beanstandungen von Wahlen in den vergangenen Jahren zugenommen haben. "Der Bürger ist sensibler geworden", sagt Kallerhoff.
In Greifswald sehen alle Rechtsgutachten in der geschlossenen Tür einen Wahlfehler. Den entscheidenden Punkt, ob dieser Wahlfehler erheblich gewesen ist, das Ergebnis beeinflusst hat und damit eine Wiederholung zwingend erforderlich macht, bewerten die vorliegenden Expertisen jedoch sehr unterschiedlich.