Traunstein/Rosenheim
"Ich bekenne mich schuldig" - Flut von Prozessen gegen Schleuser
9. November 2015, 9:25 Uhr aktualisiert am 9. November 2015, 9:25 Uhr
Die Gerichte an der Grenze kommen kaum noch nach mit Prozessen gegen Schleuser. Zeitweise saßen fast 800 Verdächtige in U-Haft. Bis alle Verfahren abgearbeitet sind, dauert es lange. Die Justiz bekommt dafür mehr Personal. Normalität kehrt so schnell nicht ein.
Er hat selbst vor Jahrzehnten Fluchterfahrungen gesammelt - nun sitzt er als Schleuser auf der Anklagebank. "Ich habe zum ersten Mal geschleust", lässt der gebürtige Pakistaner die Dolmetscherin im Prozess vor dem Amtsgericht Traunstein übersetzen, "ich bekenne mich schuldig." Die Anklage wirft dem 46-Jährigen vor, im Sommer 26 Iraner, Afghanen und bengalische Staatsangehörige von Budapest nach Deutschland geschleust zu haben - eingepfercht im Laderaum eines Transporters.
Seit Beginn der Flüchtlingskrise kommen die grenznahen Gerichte in Bayern kaum nach mit Verfahren gegen Fluchthelfer. Zeitweise saßen fast 800 mutmaßliche Schleuser in bayerischen Gefängnissen in Untersuchungshaft. Seit Wiedereinführung der Grenzkontrollen ist die Zahl zwar deutlich gesunken, doch stapeln sich die Verfahren auf den Schreibtischen der Staatsanwälte. Traunsteins Landgerichts-Präsident Rupert Stadler sagt: "Es ist eine Flutwelle von Verfahren über uns zusammengebrochen." Der Chef der Staatsanwaltschaft, Wolfgang Giese, wagt erst gar keine Prognose, wann die Flut eingedämmt werden kann.
Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) hat zusätzliche 50 Stellen für Staatsanwälte und Richter versprochen, um den Berg von Anklagen und Prozessen gegen Schleuser bewältigen zu können. Die Geschäftsstellen sollen weitere 135 Mitarbeiter bekommen. Trotz der derzeit hohen Belastung der Justiz ist Bausback strikt dagegen, die zunächst illegale Einreise von Flüchtlingen zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen, auch wenn fast alle Verfahren eingestellt werden. Eine "rechtspolitische Geisterfahrt" nennt er entsprechende Überlegungen von Justizministern in SPD-geführten Bundesländern.
Der mutmaßliche Schleuser pakistanischer Abstammung will nicht gewusst haben, dass im Laderaum seines Transportes Flüchtlinge saßen. Er sei mit dem Vorsatz von Budapest nach München aufgebrochen, dort einen Job zu finden, sagt er vor Gericht. Erst als jemand an die Führerkabine klopfte, habe er bemerkt, dass er nicht alleine unterwegs war. Er hielt an und ließ ein kleines Kind samt Eltern auf die Beifahrerbank. Richter Wolfgang Ott fragt, ob dem Angeklagten spätestens jetzt klar geworden sei, dass er als Schleuser am Steuer saß. Die Antwort: "Ich glaubte, es sei normal, Leute mitzunehmen."
Über die Drahtzieher des Schleusergeschäfts erfährt das Gericht nichts. Gerade einmal 200 Euro Schleuserlohn sollen dem Fahrer angeboten worden sein - ausbezahlt nach der Rückkehr in Budapest. Dazu kam es nicht, der Mann wurde am 2. Juni an der Autobahn Salzburg-München (A8) nahe dem Chiemsee gefasst. Das Gericht verurteilt den 46-Jährigen zu eineinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung. Staatsanwalt Alexander Karch hatte zweieinhalb Jahre gefordert, Verteidiger Miguel Moritz eine Bewährungsstrafe.
Der Anwalt hat Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Moritz lobt die gründliche Prozessführung von Richter Ott. "Wenn man bedenkt, dass die Grundlage der Strafzumessung nicht nur die Schwere der Tat, sondern auch der Grad der persönlichen Schuld des Täters ist, wird einem schnell bewusst, warum ein Schleuserprozess nicht innerhalb kürzester Zeit abschließend korrekt verhandelt werden kann." Der Verteidiger kritisiert, dass Verfahren gegen Schleuser an manchen Gerichten derzeit "im quasi 15-Minutentakt abgearbeitet werden". Solche Verfahren dokumentierten das Versagen der Justiz, "einen juristischen Mindeststandard auch in einer zugegebenermaßen schwierigen Situation zu wahren", sagt Moritz.
Nur wenige Stunden vor dem Traunsteiner Verfahren steht ein 47-Jähriger vor dem Amtsgericht Rosenheim. Auch in dem Fall lautet die Anklage auf Einschleusen von Ausländern. "Ich habe nicht geglaubt, dass ich im Gefängnis lande, wenn ich jemandem helfe", sagt der Automechaniker aus Rumänien. Im Zug von Wien nach München hätten ihn acht Frauen und Männer aus Pakistan und Indien angesprochen, ob er ihnen Tickets nach München besorgen könne. "Ist es ein Verbrechen, Fahrkarten zu kaufen?", fragt er Richterin Bärbel Höflinger.
In der Verhandlung stellt sich heraus, dass der Angeklagte doch nicht aus reiner Nächstenliebe handelte. Er knöpfte den Flüchtlingen zusammen mehrere hundert Euro für die Tickets ab, kaufte aber wesentlich billigere Sammeltickets. Die Differenz - immerhin 270 Euro - behielt er für sich - der Schleuserlohn. Einem Flüchtling kam die Sache gleich komisch vor. Bei seiner Vernehmung durch die Bundespolizei nach der vorläufigen Festnahme in Rosenheim sagte der Vater von vier Kindern: "Ich glaube, er wollte uns betrügen."
Verteidiger Hans Sachse meint in seinem Plädoyer: "Den ganz großen Schleuser kann ich hier nicht erkennen." Das sieht auch die Richterin so. "Sie sind weder Teil eines organisierten Schleuserrings noch haben Sie aus Nächstenliebe gehandelt", sagt Höflinger in ihrer Urteilsbegründung. Das Strafmaß: elf Monate Haft ohne Bewährung, weil der 47-Jährige bereits mehrere Vorstrafen auf dem Kerbholz hat.